«Liebe allein reicht nicht»

01. 08. 2024 | Pflegefamilie | 0 Kommentare

Der Entscheid, sein Kind vorübergehend oder langfristig in einer Pflegefamilie aufwachsen zu lassen, ist für Kind und Eltern sehr einschneidend. Wie die Übergänge und die Unterbringung möglichst sanft und nachhaltig gestaltet werden können, war das Thema an der diesjährigen Tagung des Schweizer Forum Kinder- und Jugendhilfe. Um die Perspektiven von Eltern zu integrieren, sprach PACH im Vorfeld mit zwei Müttern. Ihre Geschichten zeigen, wie unterschiedlich die Wege hin zu einem Pflegeverhältnis sind und erlebt werden.

von Andrea Huber

Ich erkrankte an Multipler Sklerose. Es wurde Tag für Tag anstrengender, den Alltag zu gestalten, zumal mein damals siehenjähriger Sohn mit seinen besonderen Bedürfnissen viel Energie und Zeit beanspruchte. Die nötigen Erholungsphasen nach kleinen Anstrengungen wurden immer länger. Ich meldete mich bei der KESB, um Entlastung zu suchen, und war ganz erstaunt, dass die Angestellten dort keine Adresslisten von Hilfsstellen oder Fachpersonen zur Hand hatten. Und die KESB war erstaunt, dass sich eine Mutter von sich aus bei ihnen meldet. Über Umwege gelangte ich an die Fachstelle Kompass, die Kinder an Pflegefamilien vermittelt und Familien eng begleitet. Dort traf ich auf einen Koordinator, der einen Ferienplatz für meinen Sohn Livio fand, damit ich mich erholen konnte. Livio fühlte sich wohl bei der Familie, die nur eine halbe Stunde entfernt von unserem Zuhause lebt. Schnell zeigte sich, dass zwei Wochen Ferien nicht ausreichten, um wieder zu Kräften zu kommen. Es folgte ein längerer Aufenthalt bei der Pflegefamilie, während ich mich in einer Burnout-Klinik behandeln liess.

Trennung aus Liebe

Mein Zustand verbesserte sich leider nicht. Ich merkte, dass Liebe allein nicht reicht, um Livio zu geben, was er braucht. Es war Zeit, dass er ganz zur Pflegefamilie zog. Wieder standen seine Koffer gepackt bereit, als er von der Schule kam. Zusammen mit dem Koordinator erklärten wir ihm, warum er künftig unter der Woche bei der Pflegefamilie leben würde. Der Abschied war furchtbar. Plötzlich kam er nicht mehr nach der Schule nach Hause. Es wurde vereinbart, dass er die Wochenenden abwechselnd bei mir und bei seinem Vater, vom dem ich schon länger getrennt lebte, verbringt. Es ist nicht immer einfach für ihn, wenn er auch grosses Glück mit seiner Familie hat. Er muss ganz viele Anpassungsleistungen vollbringen.

Ich brauchte fast zwei Jahre, um mir ohne schlechtes Gewissen zu erlauben, Freudvolles zu erleben, derweil mein Sohn diese grossen Opfer bringen muss. Lange machte ich mir Vorwürfe, als Mutter versagt zu haben. Heute weiss ich, dass ich verantwortungsvoll gehandelt habe.

Viel Schmerz trotz Einsicht

Der Koordinator war ein Glücksfall für uns. Ich habe Vertrauen zu ihm. Das ist der Schlüssel für gute Prozesse und eine nachhaltige Unterbringung. Der Koordinator hat sich das Vertrauen erarbeitet, ich kann auf sein Wort zählen und fühle mich als Mutter ernst genommen.

Es macht mir Mühe, dass ich nicht mehr viel von Livios Alltag weiss und miterlebe. Doch ich verstehe diese vereinbarten Abgrenzungen rational: Wenn er mich ständig «reinholen» könnte, würde das viel Unruhe bringen. Emotional ist es aber schwierig. Wenn er zum Beispiel Streit hat in der Pflegefamilie, muss er das mit ihr direkt regeln oder mit dem Koordinator, denn «Ménage à trois» kommt nicht gut. Und trotzdem ist es als «Gefühlsmami» so schwierig, in solchen Situationen nicht unterstützen zu können. Früher wusste ich immer, wie es ihm geht und was ihn bewegt, heute nicht mehr.

Seit vier Jahren lebt Livio jetzt bei seiner Pflegefamilie. An den Wochenenden ist er abwechselnd bei mir und bei seinem Vater. Am Sonntagabend muss er wieder von mir Abschied nehmen und ich vom ihm. Montags hat Livio oft Heimweh. Ich falle nach dem Wochenende manchmal in ein schwarzes Loch. Dann fühle ich eine Taubheit in mir und weiss gar nicht mehr, was ich mit mir anfangen soll, wenn Livio wieder geht.

Anderen Eltern Mut machen

Ich bin froh, dass ich meinen Sohn nicht aus Egoismus bei mir behalten habe und ihn ziehen lassen konnte. Es geht ihm heute sehr gut. Livio konnte sich gut entfalten, vom Sonderschüler zum Klassenbesten in der Regelklasse. Die kontinuierliche und sorgfältige Begleitung durch den Koordinator war sehr wichtig. Dieser pflegt den Dialog mit allen Beteiligten regelmässig. Das ist besonders wichtig.

Ich weiss, es ist aussergewöhnlich, dass eine Mutter von sich aus den ersten Schritt hin zu einer ausserfamiliären Unterbringung macht. Ich möchte andere Eltern, die in schwierigen Lebenssituationen sind, dazu 10 Pflegefamilie ermutigen, sich passende Hilfe zu holen. Die Kinder sind nicht unsere Kinder, sie haben uns ausgewählt, und ich darf meinem Sohn eine Begleiterin sein. Das ist meine Grundhaltung. Es war ein früher Zeitpunkt, um ihn ziehen zu lassen. Wenn ich aber sehe, wie gut er sich entwickelt hat, was er aus seinem Potenzial machen konnte, weiss ich, dass es der richtige Zeitpunkt war.

Ich verstehe bis heute nicht, warum mein Sohn damals in einer Pflegefamilie untergebracht wurde. Bernd war vier Jahre alt, heute ist er längst erwachsen. Ich war selbst über längere Zeit in Pflegefamilien aufgewachsen und wünschte mir für meinen Sohn ein stabiles Zuhause. Ich arbeitete Vollzeit und hatte für Bernd darum eine Tagesmutter. Als diese ihre Aufgabe nicht mehr wahrnehmen konnte, suchte ich eine neue Tagesmutter. Aber es kam alles anders.

Ich war 38 Jahre alt, als ich meine Beiständin bat, mir bei der Suche nach einer neuen Tagesmutter für meinen Sohn zu helfen. Warum ich die Beiständin hatte? Als ich mit 18 die Pflegefamilie verliess, hatte man mir angeboten, dass mich eine Beiständin begleiten könne. Auf eigenen Wunsch liess ich mich fortan unterstützen, vor allem in administrativen Belangen.

Meine Beiständin verkündete mir, sie habe eine gute Lösung gefunden: eine Pflegefamilie. Ich fühlte mich überrumpelt. Man argumentierte, das sei die beste Lösung und eine andere gäbe es nicht. Ich ging davon aus, dass mein Sohn jeweils von Freitagabend bis Sonntagabend bei mir sein würde und versuchte, mich mit der Idee einer
Pflegefamilie anzufreunden. Mein Sohn erhielt dann einen Beistand, wie das üblich ist bei ausserfamiliären Unterbringungen. Plötzlich hatte ich nichts mehr in meinen Händen, es wurde über meinen Kopf hinweg entschieden.

Man nahm mich nicht ernst

Man teilte mir mit, die Pflegefamilie lasse Besuch von Bernd bei mir nur alle drei Wochen zu. Und zwar nur von Samstag auf Sonntag. Die Familie betreute mehrere Pflegekinder und hatte diese Regel für alle. Punkt. Sie behaupteten, das sei das Beste für meinen Sohn. Die Beiständin und der Vormund von Bernd argumentierten damit, dass ich meinen Sohn schulisch nicht unterstützen könne, die Pflegefamilie hingegen schon. Das verstehe ich nicht. Es hat doch sicher auch früher Angebote von Schulen gegeben für Kinder, deren Eltern wenig bei den Aufgaben helfen konnten? Alle meine Einwände halfen nichts. Die Unterbringung wurde beschlossen. Man nahm mich nicht ernst, als sei ich nichts wert.

Für mich war es furchtbar, mich von meinem kleinen Bernd zu verabschieden. Es war unvorstellbar, ihn nur alle drei Wochen zu sehen. Ich setzte mich beim Vormund von Bernd dafür ein, dass mein Sohn dann wenigstens von Freitagabend bis Sonntagabend nach Hause kommen darf, statt nur von Samstag auf Sonntag. Was ich da hörte, hat mich zutiefst schockiert: Bernds Vormund sagte mir, mein Sohn sei kein Zeitvertreib. Wenn mir langweilig sei, müsse ich mich anderweitig beschäftigen. In diesem Moment verlor ich komplett das Vertrauen. Mein Bruder begleitete mich dann oft an Sitzungen mit dem Beistand, um mich zu unterstützen.

Kampf für sanfte Übergänge

Bernd verstand nicht, warum er immer am Sonntagabend wieder gehen musste. Es war schlimm, es zerriss mir fast das Herz. Dann habe ich rebelliert. Es dauerte aber lange, bis er endlich jeweils schon am Freitagabend nach Hause kommen durfte. Aber ich habe es geschafft. Ich machte mich auch für sanfte Übergänge stark: Es war mir wichtig, dass man sich beim Abholen und Bringen darüber austauscht, was man erlebt hat. «Zack-bum, hier ist dein Kind und Tschüss», das passte für mich gar nicht. Irgendwann ging man auf meinen Wunsch ein. Das machte die Abschiede für meinen Sohn und mich etwas leichter.

Als Bernd volljährig war, zog er aus. Die Pflegefamilie hatte ihm angeboten, noch länger bei ihr zu bleiben, das wollte er aber nicht. Er freute sich auf den Auszug. Sie erklärten ihm, wie er finanzielle Angelegenheiten regeln kann, gaben ihm Ratschläge und sagten, er dürfe sich immer melden. Noch heute gibt es Treffen bei der Pflegefamilie mit den ehemaligen Pflegegeschwistern zusammen.

Ich finde, man hätte den Fokus darauf legen sollen, was es braucht, damit Bernd bei mir auswachsen kann, und nicht einfach sagen, das sei jetzt für immer. Ich habe die Erwartung, dass Fachpersonen mehr auf Eltern eingehen, auch auf deren Bedürfnisse hören. Für mich war es keine gute Erfahrung: Man ist mir nicht beigestanden, sondern hat mich bevormundet. Aber ein Beistand sollte doch beistehen und nicht bevormunden wie ein Vormund?

*Namen geändert

info

INFO

Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) und die Konferenz für Kindesund Erwachsenenschutz (KOKES) haben «Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung» entwickelt (2020). Diese dienen Entscheidungstragenden auf fachlicher und politischer Ebene als Orientierungsrahmen für die Überprüfung und Weiterentwicklung ihrer spezifischen Prozesse. Im Zentrum stehen das Kind und seine Bedürfnisse. Die Partizipation des Kindes soll in allen Phasen sichergestellt werden.

Aus dem Forschungsprojekt «Pflegekinder, next generation» ist bekannt, dass Pflegekinder im Übergang in die Pflegefamilie häufig wenig Partizipations- und Gestaltungsspielraum erleben. Viele wünschen sich mehr Einbezug. Auch die Partizipation der Eltern ist wesentlich. Die Wirkungsforschung zeigt: Je besser die Betroffenen beteiligt und je transparenter diese Prozesse sind, desto wirksamer sind die Massnahmen.

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