Eine Fremdunterbringung erfolgt häufig in Zusammenhang mit belastenden Lebensereignissen. Biografiearbeit hilft bei der Auseinandersetzung mit kritischen Ereignissen und Wendepunkten. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ulm (D) hat eine Methode entwickelt, die auf Gruppenintervention basiert.
von PD Dr. phil. Andreas Witt
Einer Fremdunterbringung gehen häufig eingeschränkte Erziehungskompetenzen der Eltern, traumatische Lebensereignisse oder Entwicklungsauffälligkeiten der jungen Menschen voran. Obwohl eine Fremdunterbringung die betroffenen Kinder und Jugendlichen schützen und ihnen bestmögliche Entwicklungschancen bieten soll, stellt sie eine einschneidende Erfahrung mit zusätzlichen Belastungen dar. Die Trennung von wichtigen Bezugspersonen und Freunden, der Verlust der vertrauten Umgebung, Unsicherheit, Schuldgefühle oder Loyalitätskonflikte belasten oft den Neuanfang und erschweren das Ankommen in der neuen Lebensrealität. Sind die Betroffenen einmal fremdplatziert, so ist die Dauer der Fremdplatzierung sehr unterschiedlich und mehrfache Platzierungswechsel sind häufig (Jaritz et al.; Schmid et al.). Ein häufiger Grund für Platzierungswechsel sind Verhaltensauffälligkeiten bei den Betroffenen.
Zudem zeigen Studien, dass ungeplante Abbrüche einer Platzierung Verhaltensauffälligkeiten wiederum verstärken können. Daraus kann sich ein Teufelskreis zwischen der Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten und Abbrüchen der Fremdplatzierung entwickeln (Lockwood, Friedman & Christian; Newton, Litrownik & Landsverk).
Um diese Dynamik zu durchbrechen, sind Interventionen notwendig: zum einen zur Verringerung von Verhaltensauffälligkeiten, so zum Beispiel durch gezielte therapeutische Angebote. Zum anderen braucht es gezielte Interventionen zur Unterstützung des Ankommens im neuen Lebensumfeld und zum Umgang mit Brüchen in der eigenen Biografie.
Identitätsbildung
Eine ressourcenorientierte Methode zur Auseinandersetzung mit kritischen Ereignissen und Wendepunkten und zur Bewältigung von Krisen im eigenen Leben ist die Biografiearbeit (Lattschar & Wiemann). Vor allem qualitative Studien zeigen positive Effekte hinsichtlich der Entwicklung einer kohärenten Identität, Lebensqualität, Emotionsregulation und Identitätsbildung. Das Selbstwertgefühl und die Beziehung zu den Betreuenden werden gestärkt (Hammond, Young & Duddy; Kilman).
Biografiearbeit dient der Stabilisierung der Unterbringung. Es ist erwiesen, dass bei Kindern und Jugendlichen, mit denen intensiver biografisch gearbeitet wurde, die Wahrscheinlichkeit für ungeplante Abbrüche deutlich geringer war (G. Kilman). Jedoch geht die Durchführung von klassischer Biografiearbeit im Einzelsetting mit einem grossen personellen Aufwand einher. So zeigte sich in Grossbritannien, wo Biografiearbeit aufgrund der positiven Effekte als Standard bei allen Kindern und Jugendlichen in Fremdunterbringung eingeführt wurde, dass in der Folge weniger Ressourcen für die Regelversorgung vorhanden waren und dies mit Qualitätseinbussen einherging (Watson et al.).
Gruppenarbeit mit Peer-Effekt
Um diesen Problemen zu begegnen, wurde an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Ulm die auf Biografiearbeit basierende Gruppenintervention «Ankommen» entwickelt – unter Einbezug von Betroffenen. Die Intervention richtet sich an Kinder und Jugendliche in stationären Jugendhilfeeinrichtungen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren. Sie wird während acht Wochen mit wöchentlichen Gruppensitzungen à je 90 Minuten durchgeführt. Die Gruppen werden von zwei Mitarbeitenden der jeweiligen Jugendhilfeeinrichtung geleitet.
Intervention in drei Phasen
Die Gruppenintervention ist in drei aufeinander aufbauende Phasen gegliedert: – Vorbereitungsphase mit zwei Sitzungen; – Hauptphase, bestehend aus vier Sitzungen mit dem Fokus auf Biografiearbeit; – Abschlussphase, bestehend aus zwei Sitzung mit einem Rück- sowie einem Ausblick.
Ziele der Vorbereitungsphase sind die Herstellung einer geschützten und konstruktiven Arbeitsatmosphäre, der Aufbau von Wissen über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Fremdunterbringungen sowie das Erlernen von Strategien zur Emotionsregulation.
In der Hauptphase ist das Ziel die differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen 22 Fachartikel Fremdunterbringungsgeschichte und damit assoziierten Themen wie Loyalitätskonflikte und Stigmatisierung. Dadurch wird den Teilnehmenden nicht nur die Möglichkeit gegeben, sich angeleitet mit ihrer eigenen Fremdunterbringungserfahrung auseinanderzusetzen, sondern sie können ihre Geschichte und die damit verbundenen Gedanken und Gefühle auch mit anderen Betroffenen teilen. Im Austausch können sie miteinander adaptive Strategien für den Umgang mit Belastungen erarbeiten. Die Kernelemente zur Biografiearbeit sind die Erstellung eines Steckbriefes, einer Lebenslandkarte sowie die Anfertigung zweier Narrative.
In der Abschlussphase werden die Erfahrungen und erlernten Strategien integriert.
Adaptierbares Tool
«Ankommen» richtet sich an Kinder und Jugendliche in stationären Jugendhilfeeinrichtungen. Die Grundsätze und Methoden des Tools können jedoch in einer Vielzahl von Kontexten eingesetzt werden. Sie sind sinnvoll und hilfreich für Adoptiv- und Pflegekinder, bedürfen jedoch gewisser Anpassungen. Ein Gelingen bedingt das Beachten wesentlicher Grundsätze wie etwa Vertrauensbildung, Transparenz oder Freiwilligkeit. Die Kontrolle über den Prozess und die Gestaltung liegt bei den Betroffenen. Mit einem gut geplanten Vorgehen können Bezugspersonen die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen mit Biografiearbeit wirksam bei der Identitätsentwicklung und dem Umgang mit Widrigkeiten und Brüchen im Leben unterstützen.
Das Projekt wurde umfangreich wissenschaftlich evaluiert. Die Akzeptanz der Inhalte ist sowohl bei den Teilnehmenden als auch bei den Durchführenden hoch. Es zeigen sich positive Effekte auf die psychische Gesundheit, den Selbstwert und die Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden. Die Ergebnisse unterstreichen damit den Nutzen einer solchen Intervention für Jugendliche in Fremdunterbringung.
Quellenangaben
Hammond, S. P., Young, J., & Duddy, C. (2020).
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Jaritz, C., Wiesinger, D., & Schmid, M. (2008).
Traumatische Lebensereignisse bei Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe. Trauma & Gewalt, 2(4), 266–277.
Kliman, G. (1996).
The personal life history book: A psychoanalytically based intervention for foster children. Journal for the Psychoanalysis of Culture and Society, 1, 159–162.
Läntzsch, S., Fegert, J. M., Pfeiffer, E., Witt, A., & Rassenhofer, M. (2022).
Potenzielle Inhalte und Rahmenbedingungen einer Gruppenintervention für Jugendliche zur Aufarbeitung der eigenen Fremdunterbringung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 71(1), 55–71
Lattschar, B., & Wiemann, I. (2018).
Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte. Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit, 5. Aufl. BeltzJuventa.
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Newton, R. R., Litrownik, A. J., & Landsverk, J. A. (2000).
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Abschlussbericht Modellversuch Abklärung und Zielerreichung in stationären Massnahmen. Bern, Bundesamt für Justiz.
Schmid, M., & Fegert, J. M. (2019).
Heimerziehung und andere betreute Wohnformen. Empirische Grundlagen der familienrechtlichen Begutachtung. Familienpsychologische Gutachten fundiert vorbereiten, 1, 333–357.
Schepp, S., Fegert, J. M., Pfeiffer, E., Witt, A., & Rassenhofer, M. (2024).
Framework and effects of the life story work based group intervention ANKOMMEN for adolescents in residential care in Germany. A qualitative analysis of interviews with participants. Children and Youth Services Review, 107692.
Schepp, S., Fegert, J. M., Rassenhofer, M., Regner, S., Witt, A., & & Pfeiffer, E. (under review).
Evaluation of the life story work based group intervention ANKOMMEN for adolescents in residential care in Germany – A single-arm pilot study. Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health
Staines, J., & Selwyn, J. (2020).
«I wish someone would explain why I am in care »: The impact of children and young people’s lack of understanding of why they are in out-of-home care on their well-being and felt security. Child & Family Social Work, 25, 97–106.
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