Pflegefamilien gibt es in ganz unterschiedlichen Formen. Die Entlastungspflegefamilie braucht es dort, wo Herkunfts- und Vollzeitpflegefamilien Unterstützung benötigen.
von Natalie Ehrenzweig
Eigentlich hört es sich ganz einfach an: «Eine Entlastungsplatzierung ist für Kinder gedacht, die dauernd bei Pflegeeltern leben, welche für Ferien oder einzelne Wochenenden entlastet werden müssen», steht auf der Webseite von Espoir geschrieben. Als eine der DAF (Dienstleistungsanbietende in der Familienpflege), mit denen PACH zusammenarbeitet, ist Espoir eine der Organisationen, die Kinder, Jugendliche und Familien unter anderem durch begleitete Pflegeplatzierungen unterstützt.
Soziales Engagement
Unter anderem vermittelt Espoir Entlastungspflegefamilien für die bei ihnen angestellten Pflegeeltern. Eine dieser Entlastungspflegefamilien sind die Ineichens (alle Namen geändert). «Bereits bevor wir eigene Kinder hatten, haben mein Mann und ich darüber geredet, dass wir uns vorstellen könnten, einem Kind als Pflege- oder Adoptivfamilie ein Zuhause zu bieten, falls es mit eigenen Kindern nicht klappen würde», erinnert sich Sandra Ineichen. Und obwohl das Paar vor vier Jahren Eltern eines Buben wurden, der vor zwei Jahren auch noch eine kleine Schwester bekam, wollten sie sich sozial engagieren und meldeten sich bei Espoir. «Gemeinsam stellten wir fest, dass wir uns in unserer derzeitigen Lebenssituation am besten als Entlastungspflegefamilie eignen, da unsere eigene Familienplanung zum Zeitpunkt unserer Bewerbung bei Espoir noch nicht abgeschlossen war», erläutert sie. Als Entlastungspflegefamilie mussten die Ineichens nur einen Teil des Auswahlverfahrens zur Pflegefamilie absolvieren.
Wie Gotte und Götti
Alle sechs Wochen kommen zwei acht- und zehnjährigen Buben, die Geschwister sind, zu einem Entlastungswochenende zu den Ineichens. «Wir empfinden uns als eine Art Götti und Gotte für die zwei. Wenn sie bei uns sind, ist das einerseits eine Auszeit für ihre Pflegeeltern, aber auch für die Kinder», betont Sandra Ineichen. Sie sieht ihr Engagement als gute Lebensschule. An den Wochenenden, an denen die Ineichens für die zwei Buben das Zuhause sind, pflegen sie Rituale, wie zum Beispiel lange gemeinsame Essen. «Wir erleben viele lässige Momente mit ihnen, es sind Wochenenden und nicht der Alltag. Wenn sie bei uns sind, sind wir voll für sie da», sagt sie. Das sei ihrer Meinung nach auch eine Voraussetzung für interessierte Pflegefamilien: «Man muss Zeit geben wollen. Und Freude an Menschen haben.» Ausserdem müsse man gewillt sein, sich mit sich selber und dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen: «Ich bin mit meinen eigenen Kindern viel intuitiver, bei unseren Pflegebuben überlege ich viel mehr, wie etwas ankommt, wenn ich etwas sage. Einerseits kenne ich sie natürlich nicht so gut wie unsere eigenen Kinder, aber ich habe auch höhere Ansprüche beziehungsweise wir haben ja auch einen professionellen Auftrag», betont sie.
Eine gute Zeit haben
Dieser Auftrag wird deutlicher, wenn Sandra Ineichen das ganze Umfeld der Pflegekinder beschreibt: «Die Kinder haben nur sehr wenig Kontakt zur Herkunftsfamilie. Sie leben seit ungefähr fünf Jahren bei ihrer Pflegefamilie und sind dort sehr verwurzelt. Zwei Entlastungspflegefamilien – also wir und noch ein älteres Paar – kümmern sich alle drei Wochen von Freitagabend bis Sonntagabend um die Buben.» Trotz der anspruchsvollen familiären Situation gehe es mit den Buben meistens sehr gut. Die Ineichens wissen nicht viel von den Herausforderungen mit der Herkunfts- oder der Pflegefamilie. Und das sei gut so: «So fokussieren wir uns darauf, mit den Jungs eine gute Zeit zu haben.»
«Man muss Zeit geben wollen. Und Freude an Menschen haben. »
– Sandra Ineichen, Entlastungspflegemutter
Auch wenn die Buben sich gut in die Familie einfügten, gebe es für die Ineichens doch auch Herausforderungen. «Man ist von einem Moment auf den anderen eine sechsköpfige Familie. Unser Sohn vergöttert die zwei und will alles mitmachen. Den zwei Älteren mangelt es manchmal am Verständnis dafür, dass das nicht immer geht», meint sie schmunzelnd.
Gut begleitet mit Espoir
Die Ineichens haben als Entlastungspflegefamilie eine «Open-end-Verpflichtung» auf sich genommen. «Wir gehen davon aus, dass die Buben die nächsten Jahre noch zu uns kommen. Wir haben uns allerdings schon gefragt, wie das wird, wenn sie in die Pubertät kommen. Haben sie dann noch Lust, alle paar Wochen ihr Wochenende bei uns zu verbringen? Und ist das dann überhaupt noch angebracht?» Mit solchen Fragen kann sich die Familie Ineichen auch an ihren Koordinator bei Espoir wenden. «Nach jedem Wochenende schreiben wir einen kurzen Bericht darüber, wie es gelaufen ist. Wir bekommen gute, wertschätzende Rückmeldungen und fühlen uns gut aufgehoben», sagt Sandra Ineichen. Auch die Koordination mit den anderen Beteiligten laufe gut.
Viele Ängste auffangen
Die Familie Weber rutschte eher in die Tätigkeit einer Entlastungspflegefamilie hinein. «Die Schule hat uns angefragt, ob wir für ein Mädchen sporadisch diese Entlastung bieten können», erzählt Silvia Weber. Neben den leiblichen drei Kindern gehört an gewissen Tagen auch ein Tageskind zur Familie – und wie erwähnt das Entlastungspflegemädchen, das jeweils über Nacht bleibt. «In der Schule ist wohl bekannt, dass ich Tagesmutter bin», erklärt sich Silvia Weber die Anfrage.
Ähnlich wie die Familie Ineichen haben auch die Webers ihre Motivation für das Engagement als Pflegefamilie in ihrer privilegierten Situation gefunden: «Uns geht es sehr gut», betont Silvia Weber. Man müsse sich aber schon bewusst sein, dass man seine Familie auftun müsse. «Da kommt ein neues Geschwister in die Familie, und mit dem Kind kommt auch eine ganze neue Familie, mit der man auch den Kontakt pflegen soll», beschreibt sie die Situation der Entlastungspflegefamilie.
«In Liebe investieren»
Damit diese Aufgabe gelingen könne, sei eine stabile eigene Familie Voraussetzung. «Das Gefüge muss tragfähig sein, denn es gibt ein neues Gleichgewicht. Ausserdem muss man sich etwas abgrenzen können», findet Silvia Weber. Denn die Beiständin habe den Job, sich um alle Beteiligten zu kümmern – sie als Entlastungspflegefamilie seien dafür da, dem Kind einen sicheren Hafen zu bieten. Seit dem Sommer 2020 kamen die Webers dreimal zum Einsatz. «Das Mädchen kommt jeweils sehr kurzfristig zu uns, fast schon als Notfall statt als geplante Entlastung, und bleibt dann ein paar Wochen hier», erzählt Silvia Weber. Zurzeit werde diskutiert, ob die Aufenthalte bei den Webers regelmässiger stattfinden sollen.
Die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten laufe gut. «Ich habe auch die Weiterbildungen bei PACH geschätzt. Wir haben viel über die Zusammenhänge gehört und Anlaufstellen kennengelernt. Der Austausch war sehr wertvoll», sagt Silvia Weber. Die Inputs helfen auch beim Umgang mit den Herausforderungen des Familiengefüges des Kindes oder mit den Erwartungen der Eltern. «Wir müssen viele Ängste auffangen, und da spielt eine gewisse Dramatik mit», erzählt die Entlastungspflegemutter. Doch es sei nicht ihre Aufgabe, alle Probleme zu lösen, weiss sie und betont: «Wichtig ist, dass sich das Kind bei uns aufgehoben fühlt und die Eltern uns vertrauen.»
Die Webers finden es toll, dass sie in jemanden Zeit und Liebe investieren können. «Wir wollen ganz viele gute Sachen in den Lebensrucksack dieses Kindes füllen, und wir möchten, dass es sich, auch wenn es in einer schwierigen Situation ist, bei uns sicher fühlt», erläutert sie. Aktiv gesucht hätten die Webers ein Engagement als Entlastungspflegeeltern aber wahrscheinlich nicht.
«Freude, die Freizeit mit Kindern zu gestalten»
Espoir wurde 1992 als gemeinnütziger, konfessionell und politisch unabhängiger Verein mit Sitz in Zürich gegründet. Der Verein unterstützt Kinder und Familien mit massgeschneiderten und bedarfsorientierten Dienstleistungen, insbesondere durch sozialpädagogische Familienbegleitungen, sozialpädagogische Abklärungen und begleitete Platzierungen in Pflegefamilien. Die Fachleiterin DAF, Claudia Ryter, beantwortet unsere Fragen:
Claudia Ryter, welche Pflegeeltern brauchen Entlastungspflegefamilien?
Claudia Ryter: Angestellte Pflegeeltern von Espoir profitieren bei Bedarf und wenn möglich von Entlastungs- oder Ferienplatzierungen. Die Entlastungspflegefamilien nehmen die Kinder an Wochenenden oder in Ferienwochen bei sich zu Hause auf. Espoir sucht hierfür immer wieder nach geeigneten Familien.
Was sind da die häufigsten Gründe?
Pflegeeltern haben Bedarf nach einem Entlastungsplatz, wenn das Pflegekind/die Pflegekinder in der Begleitung anspruchsvoll sind und sie keine Möglichkeit haben, ab und zu ein Wochenende bei ihrer Herkunftsfamilie zu verbringen – also wenn die Pflegeeltern ihr Pflegekind 365 Tage im Jahr bei sich haben. Eine Entlastungsfamilie gibt ihnen die Möglichkeit, sich auch mal Zeit als Paar oder als Familie zu nehmen und durchzuatmen.
Gibt es genug Entlastungspflegefamilien?
Für unsere eigenen Pflegefamilien haben wir genügend Entlastungsfamilien zur Verfügung. Wir sind momentan aber an der Entwicklung eines Angebots von sogenannten Teilzeit-Pflegeeltern, die zukünftig Herkunftsfamilien entlasten sollen.
Was sind die besonderen Herausforderungen?
Die Entlastungspflegefamilien verpflichten sich verbindlich, das Kind oder die Kinder regelmässig übers Wochenende oder während Ferienwochen zu sich zu nehmen. Die Termine finden in Absprache mit der Pflegefamilie, in welcher das Kind bereits lebt, statt. Espoir koordiniert die Terminfindung. Die Entlastungsfamilien helfen dem Kind, die Übergänge zwischen Pflegefamilie und ihnen zu überwinden und sind bereit, die Übergaben sorgfältig zu gestalten und mit den Pflegeeltern zu besprechen. Sie sind flexibel und belastbar und geben Kindern, die auch anspruchsvolles Verhalten zeigen können, einen sicheren und geborgenen Platz. Sie haben Freude, die Freizeit mit Kindern zu gestalten und zu verbringen.
Wer eignet sich als Entlastungspflegefamilie?
Wir suchen Familien, die den Kindern während Wochenenden oder Ferien eine Stütze sein können. Sie sind aufgeschlossen, verständnisvoll und tragfähig und bereit, sich als Entlastungspflegefamilie längerfristig zu engagieren. Vorzugsweise haben Entlastungspflegeeltern eigene Kinder oder Pflegekinder. Es können sich jedoch auch Paare mit viel Erfahrung in der Begleitung von Kindern eignen.
Wie wird man Entlastungspflegefamilie?
Bei Espoir durchlaufen die Entlastungspflegeeltern eine interne Eignungsabklärung. Dabei richten wir uns nach der Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (Artikel 5 PAVO), den kantonalen Vorgaben und den Qualitätskriterien der Fachverbände.
Welchen Prozess durchlaufen sie?
Interessierte Entlastungspflegeeltern erhalten von uns einen Bewerbungsfragebogen, der uns Aufschluss gibt über ihre Motivation, ihre Familiensituation und ihren Hintergrund. Nach dem Einreichen des Fragebogens erfolgt ein Hausbesuch, um sich gegenseitig persönlich kennenzulernen und offene Fragen zu klären. Der Prozess findet mit einem persönlichen Gespräch zwischen Entlastungspflegeeltern und Espoir seinen Abschluss – und ist weniger umfangreich als bei «normalen» Pflegeeltern. Jede DAF (Dienstleistungsanbietende in der Familienpflege) legt ihr Auswahl- und Ausbildungsverfahren selbst fest.
www.vereinespoir.ch
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