Adoptiert, nie angekommen – Hanbekks im Interview

26. 06. 2025 | Fokus, Adoption | 0 Kommentare

Heute erscheint das Buch «Importkind». Hanbekks erzählt darin aus ihrem Leben, geprägt von einer frühen Entwurzelung, Verlustängsten und der Suche nach Heimat. Sie wurde als Kleinkind von einer Schweizer Familie aus Südkorea adoptiert. Ein Zuhause fand sie dort aber nicht.

Das Interview führte Andrea Huber
Du hast ein sehr ehrliches Buch geschrieben über dein Leben. Warum gerade jetzt?

Eigentlich schrieb ich meine Erlebnisse als persönliche Verarbeitung auf. Es war nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Aber dann kam die Anfrage von Cristina Karrer für einen Dokumentarfilm im NZZ Format zu Auslandadoptionen – mit mir als Protagonistin. Da machte es für mich Sinn, ein Buch aus meinen Texten zu machen. Auch, weil Auslandsadoptionen jetzt politisch so weitgehend diskutiert werden. Aber ich wollte nicht ein «Opfer-Epos» machen. Es gibt unzählige Adoptionsgeschichten. Einige werden über die Medien sichtbar, viele nicht. Meine Geschichte ist einfach eine von ganz vielen.  

Wo legst du den Fokus?

Ich kann nicht 53 Jahre in knapp 200 Seiten wiedergeben. Ich wählte die Bereiche aus, die ich als Langzeitfolgen der Adoption wahrnehme. Da geht es stark um eine Suche nach Zugehörigkeit. Es geht um Bindung. Es geht um Verlustangst. Oder anders gesagt: Es geht um die durch die Adoption verursachten Kollateralschäden. Ich schreibe auch noch an einem Krimi. Da kann ich die Charakterzüge der Figuren verändern, wenn sie mir nicht gefallen. Das geht in «Importkind» nicht. Ich bin ehrlich und zeige mich. Das fiel mir beim Schreiben oft schwer.

Du hast das Schreiben bereits als Kind für dich entdeckt. Was gibt dir das Schreiben?

Wenn man Erlebtes reflektiert, um es in Worte zu fassen, ist das ja ein bisschen, wie wenn man es jemandem erzählt. Ich begann anfangs meiner Teenager-Zeit Tagebuch zu schreiben. Ich hatte damals keine Bezugsperson, mit der ein solcher Austausch möglich gewesen wäre.

«Der Bindungsbruch hat mein Leben so stark geprägt.»

Du schreibst viel über deine Liebesbeziehungen. Beim Lesen ist mir aufgefallen, dass du die zum Teil komplizierten Beziehungskonstellationen nicht im Kontext mit deiner Adoptionserfahrung einordnest. Hast du das bewusst uns Leser*innen überlassen?

Ja, ich habe das tatsächlich sehr bewusst gemacht. Ich schreibe ganz viele Dinge nicht auf, weil ich den Anspruch habe, dass die Leser*innen das selbst heraus spüren sollen. Das Buch hat nicht meine Adoption im Zentrum, sondern ich schreibe aus einer Adoptionserfahrung heraus über meine Leben. Es soll auch lustig und spannend sein. Ich bin jemand mit sehr viel Humor. Dieser schwingt im Buch mit. Ich möchte aber auch vermitteln, dass dreieinhalb ein sehr schlechtes Alter für die Adoption war. Der Bindungsbruch hat mein Leben so stark geprägt.

Du beschreibst, dass du beim letzten Essen vor dem Abflug aus Südkorea die Hälfte des Essens «aufgespart» hast für später. Ein starkes Bild. Hast du eine Erinnerung an den Abschied?

Dass ich das Essen aufgespart habe für den nächsten Tag, erzählten mir später meine leiblichen Eltern, als ich sie als Erwachsene wieder traf. Aber meine frühste Erinnerung ist tatsächlich der Flug in die Schweiz: Ich musste erbrechen und der Flug war unerträglich lang. Ich fühlte mich völlig verloren und hatte Angst.

Kannst du dich auch an die Ankunft in der Schweiz erinnern?

Nein, da gibt es ein schwarzes Loch – in meinem Buch nenne ich ein Kapitel so. Ich habe erst ab dem Kindergarten wieder Erinnerungen.

Weisst du heute, was damals geschehen ist?

Man spekuliert, dass es in der ersten Familie, zu der ich nach meiner Ankunft gebracht wurde und die mir den Namen «Martina» gab, zu sexuellen Übergriffen kam. Im Bericht der Vormundschaftsbehörden steht, ich hätte irgendwann aufgehört zu essen, angefangen ins Bett zu machen, nicht mehr gesprochen und stundenlang mit dem Gesicht zur Wand im Korridor gestanden. Ich wurde dann nach Männedorf in ein Kinderheim gebracht. Viele Jahre später erfuhr ich, dass dieses Kinderheim in Wirklichkeit die grösste stationäre Kinderpsychiatrie der Schweiz ist. Ich wünschte mir, diese Monate wären nie gewesen, denn was immer damals passiert ist, hat mein ganzes Leben mitgeprägt und negativ belastet.

Du hast zwei Töchter, bist beruflich erfolgreich und lebst heute in einer gesunden Beziehung. Du bist an dieser Erfahrung also nicht zerbrochen. Was hat dir geholfen?

Ich glaube, dass ich in meiner Kindheit, im Alter zwischen 10 und 13 Jahren, den Entscheid gefällt habe, resilient sein zu wollen. Das klingt vielleicht alles ein bisschen abgehoben. Aber ich habe gemerkt, ich muss mich entscheiden: Entweder ich jammere immer herum und alles ist schlimm, oder ich sage mir, ich kann die Dämonen bekämpfen und schauen, dass ich irgendwie überlebe.

Und wie hast du das gemacht?

Ich bin als Kind so häufig ausgelacht und zusammengeschlagen worden. Und ich bekam mit, wie auch andere zusammengeschlagen wurden. Oft brauchte es nicht viel, um das Ziel zu sein. Ich habe übertrieben viel Sport gemacht und gelernt, meinen Körper einzusetzen. Irgendwann habe ich angefangen, zurückzuschlagen. Ich konnte die Leute fertig machen, sobald mir jemand frech kam. Das habe ich als Coping-Strategie entwickelt.

Speziell das Kunstturnen war wichtig für dich als Kind. Warum?

Ich habe das nicht selbst gewählt. Der Psychiater hatte meinen Eltern gesagt hat, ich sei ein hochintelligentes Kind, das sie beschäftigen müssen. Ich bin von Natur aus kein ehrgeiziger Mensch, aber ich ging so gerne hin, weil andere Kinder das gleiche Ziel hatten. Ich hatte wahrscheinlich viel Aufmerksamkeit, die ich genoss, und ich war auch talentiert. In der Schule ist es einfach so: Wer gut in der Schule und im Sport ist, hat immer die Oberhand. Das gibt Kontrolle. Und Selbstsicherheit.

«Auf der anderen Seite des Kantons träumt eine Frau von der exotischen Lösung für ihre innere Leere» – so beschreibst du die Motivation deiner Adoptivmutter für die Adoption. Ein harter Satz. Ist das Buch auch eine Abrechnung mit gewissen Personen?

Ich hoffe nicht, dass es als Abrechnung wahrgenommen wird. Was ich probiert habe, ist alles mit einem gewissen Mass an Sarkasmus zu betrachten. Die Situation war so, dass meine Mutter bereits drei Kinder hatte. Alle blond. Sie hatte diese fixe Vorstellung, auch noch ein Kind mit dunkeln Haaren zu haben. Sie wollte einfach bewundert werden. Eigentlich wollte sie einen peruanischen Jungen. Das bekam ich oft zu spüren.  

Du beschreibst auch, dass Rassismus omnipräsent war. Wie hast du das als Kind erlebt?

Es war einfach ein rauer Umgangston, und niemand stand für dich ein. Weder Eltern noch Lehrpersonen. Die Formen von Rassismus sind vielschichtig und stehen für mich auch nicht im Fokus. Aber klar, das ganze Thema ist absurd. Immer als «Fremde» kommentiert zu werden, ist für viele eine tägliche Realität. Noch heute machen mir Menschen Komplimente, dass ich gut Deutsch spreche.

Fühltest du dich denn zuhause bei deiner Adoptivfamilie?

Nein, ich habe mich nie sicher gefühlt. Mein Schulfreund Roman hatte eine präsente Mutter, eine funktionale Familie – aus meiner Sicht. Dort erlebte ich ein warmes Familiengefühl, aber nicht bei meiner Adoptivfamilie. Noch heute kann ich mich immer auf ihn verlassen. Mit meiner Mutter habe ich irgendwann den Kontakt abgebrochen.

Mit anfangs 30 machtest du dich auf die Suche nach deiner Familie in Südkorea. War das schwierig?

Mein damaliger Freund und später Vater meiner beiden Töchter motivierte mich zu dieser Reise – auch, um das Land kennen zu lernen. Nie hätte ich gedacht, dass ich meine Familie so rasch finde. Das ist absolut ungewöhnlich und hing vor allem mit meinem seltenen Nachnamen zusammen. Zudem war meine Adoption legal, so waren alle relevanten Papiere vorhanden und korrekt.

«Es lag an mir, die Verbindung aufrechtzuerhalten.»

Viele haben die Vorstellung, dass beim Wiedersehen alle überglücklich sind. Wie war deine Erfahrung?

Im ersten Moment habe ich es als sehr positiv empfunden. Ich merkte aber auch rasch, dass ich diejenige bin, die sich um den Kontakt bemühen muss. Es lag an mir, die Verbindung aufrechtzuerhalten und ein Fundament zu schaffen.

Was erfuhrst du über deine Adoption?

Ich war die zweite Tochter. Drei Jahre nach mir kam ein Bruder zur Welt. Meine Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen. Wenn du die zweite Tochter bist, hast du einfach schlechte Karten. Ich hatte immer das Gefühl, sie hätten sich schwer getan mit der Adoption. Adoption war ein Stigma. In der Familie wurde nie darüber gesprochen. Meine Geschwister wussten nicht, dass sie eine weitere Schwester hatten.

Rund 200’000 Kinder wurden seit den 50er-Jahren aus Südkorea nach Europa adoptiert Warum?

Die koreanische Regierung hat Propaganda gemacht: Sie warben dafür, ein Kind weg zu geben, wenn die Eltern nicht ein gutes Leben garantieren konnten. Das war nach dem Krieg, das Land war gebeutelt, die Menschen gut gebildet. Sie dachten, wenn die Regierung das sagt, dann wird es das Richtige sein.

Südkoreas Adoptions-Aufarbeitung: «Massenexporte von Kindern»

Du warst viele Male in Südkorea und hast Koreanisch gelernt. Fühltest du dich irgendwann heimisch?

Ich bin 20 Jahre lang immer wieder hin – ich war sicher 20-mal in Korea: Mit Kindern, ohne Kinder, einmal vier Monate, einmal zwei Monate, oft ein paar Wochen. Aber eine echte Verbindung mit meiner Geburtsfamlie entstand nie. Und ich bin in Korea immer als Ausländerin aufgefallen. Ich ziehe mich anders an; ich bin häufig ungeschminkt; ich spreche die Sprache nicht perfekt; ich weiss nicht, wann ich mich wie tief verbeugen muss. Ein Gefühl der Zugehörigkeit ist nie entstanden.

Warum hattest du das Bedürfnis, dass deine Kinder die Kultur kennenlernen?

Es ging mir darum, meinen Töchtern den Zugang zu einem Teil ihrer Herkunft zu ermöglichen. Korea macht fünfzig Prozent ihrer genetischen Geschichte aus. Ich wollte, dass sie zumindest die Chance haben, diese Hälfte kennenzulernen, bevor sie sich selbst ein Bild davon machen..

Irgendwann hast du entschieden, das Kapitel Südkorea abzuschliessen, warum?

Ich war 2023 das letzte Mal länger in Korea. Da hat es mir total abgelöscht. Ich kam zum Schluss: Das war es jetzt mit Korea und mir. Den Kontakt mit meiner Familie habe ich nicht mehr aufrechterhalten.

Warum?

Die Bemühungen und das Interesse waren einfach zu einseitig. Mein Bruder reiste zum Beispiel durch Europa und hat mich nicht einmal besucht. Ich schliesse es nicht aus, wieder einmal nach Korea zu reisen. Aber nicht mehr für meine Familie.

Du bist im Mai dieses Jahres dann aber doch wieder zurück – für den Dokumentarfilm.

Der Titel des Filmes ist «Umstrittene Auslandsadoption» – er erscheint Ende August im NZZ Format. Meine Familie wollte nicht Teil des Films sein. Meine Mutter antwortete auf die Anfrage, sie wolle vergessen und nicht mehr darüber sprechen. Das habe ich respektiert. Darum liegt der Fokus im Film stärker auf der koreanischen Gesellschaft und auf der Tatsache, wie wenig ich auch dort hineinpasse. Es geht auch darum, wie sich Korea in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, wie es heute für Exportschlager wie K-Beauty, K-Pop oder K-Dramas bewundert wird und wie wenig Raum gleichzeitig für eine Auseinandersetzung mit der Adoptionsvergangenheit bleibt.

«Im Buch wird sichtbar, dass ich oft völlig irrational handelte.»

Mit dem Buch und dem Film exponierst du dich. Macht dir das auch etwas Angst?

Ja schon. Ich habe Angst, dass es niemand lesen will (lacht). Und ich weiss nicht, was es alles auslöst. Ich lasse einen tiefen Einblick in mein Leben zu. Damit gebe ich auch Kontrolle ab. Diese zu haben, trainierte ich ein Leben lang. Im Buch wird sichtbar, dass ich auch oft völlig irrational handelte, grade in Beziehungen. Vieles in meinem Leben war nicht optimal, aber es gibt auch viele Dinge, die sind gut gelaufen. Ich bin kein Opfer, und ich wollte nie ein Opfer sein. Bei den einzelnen Geschichten – so heftig sie auch sind – wird klar, dass ich kein Selbstmitleid habe.

Gleichzeitig startest du den Podcast «Importkind». Welches Ziel verfolgst du damit?

Damit möchte ich zur politischen und gesellschaftlichen Diskussion rund um Adoptionen beitragen. Für mich steht der Begriff «Identität» im Mittelpunkt. Mit vielen Fachleuten, aber auch mit Comedians, Schriftstellern oder Adoptierten diskutiere ich darüber, was es braucht, um sich daheim zu fühlen. Natürlich im Kontext von Adoptionen, die ich als Thema in die breite Bevölkerung tragen möchte. Es hat mehrere prominente Personen dabei. So erhält der Podcast Reichweite.

Das Buch «Importkind» erscheint heute, 26. Juni 2025 im Voima-Verlag (Bestellungen über diesen Link).

Der gleichnamige Podkast ist auf Spotify und Apple Podcast zu hören.

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