Wer ist für das Glück des Kindes verantwortlich?

10. 06. 2020 | Pflegefamilie, Fachwissen | 0 Kommentare

In den Empfehlungen der SODK/KOKES zur ausserfamiliären Unterbringung wird die Kontroll- und Monitoring-Aufgabe der Aufsicht thematisiert. Prof. Dr. Thomas Gabriel erläutert seinen Standpunkt.

von Sarah Hadorn
Thomas Gabriel, Sie haben viel zum Thema Pflegefamilien und Heimerziehung geforscht. Was brauchen Kinder Ihrer Ansicht nach in Bezug auf das Aufsichtsverfahren?

Thomas Gabriel: Wenn man an Abbrüche der Pflegeverhältnisse denkt, dann zeigt die Forschung, dass die Prozesse früh anfangen und von den Fachpersonen oft erst spät wahrgenommen werden. Klar ist: Kinder können genau benennen, was nicht gut ist. Doch die Erwachsenen hören oft nicht zu. Die Frage ist: Woran liegt das?

Haben Sie eine Antwort darauf?

Erwachsene und Kinder stecken in der Regel in einem Machtverhältnis – und oft wissen die Kinder gar nicht, wer ihre Ansprechperson ist und haben keinen Bezug zu dieser. Oder sie werden schlicht nicht ernstgenommen, da Erwachsene oft zu wissen glauben, «was Kinder brauchen».

Und wie kann diesem Problem begegnet werden?

Der Schattenbericht zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in der Schweiz hat festgestellt, dass es für Kinder durch den Föderalismus zu wenig Rechtssicherheit gibt. Und auch gerade die kantonalen Unterschiede wurden kritisch benannt. Es darf nicht vom Wohnort abhängen, ob und welche Massnahmen bei Kindeswohlgefährdungen gewählt werden. In der Konvention, in der Pflegekinderverordnung (PAVO) wie auch in den SODK/KOKES-Empfehlungen wird für ein Kind eine Vertrauensperson gefordert.

Wie wird das umgesetzt?

An der Tagung werden wir die Best Practice von einigen Kantonen kennenlernen. Generell wird es divers umgesetzt, teilweise gar nicht. Unklar ist, ob die Vertrauensperson eine Fachperson sein soll oder auch aus dem sozialen Umfeld kommen kann. Für Kinder sind Vertrauenspersonen in schwierigen Situationen wichtig. Sie sollten sie dauerhaft begleiten und eine beständige Bezugsperson sein. Es gibt Kinder, die haben innerhalb kurzer Zeit zwölf Beistände. Da liegt es auf der Hand, dass es für Kinder unmöglich ist, zur Beistandsperson Vertrauen aufzubauen

«Kinder haben in behördlichen Prozessen immer noch zu wenig Macht.»

Wie kann eine Vertrauensperson unterstützen?

Kinder haben gerade in behördlichen Prozessen noch immer zu wenig Macht. Da können sie zum Beispiel unterstützen.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen bezüglich den Aufsichtsverfahren bei Pflegefamilien?

Ein jährlicher Besuch in einem formalisierten Setting reicht aus meiner Sicht nicht aus, um herauszufinden, wie es dem Kind in einer Pflegefamilie geht. Der Föderalismus ist hier zudem eine Schwierigkeit. Es braucht kantonsübergreifend stimmige Regelungen, die Verantwortlichkeiten im Interesse der Kinder festlegen.

Woran lässt sich die Qualität einer Unterbringung bei einer Pflegefamilie oder in einem Heim messen?

Ein klarer Indikator für Qualität der Platzierung ist, wenn sich ein Kind in unterschiedlichen Bereichen positiv entwickelt und die altersspezifischen Entwicklungsaufgaben meistert. Zudem braucht ein Kind eine «erzählbare Geschichte» für die Entwicklung seiner Biografie, die subjektiv stimmig erklärt, wieso es nicht bei seinen Eltern lebt. Hier geht es nicht um «objektive» Wahrheiten, sondern um die Erzeugung von Sinn aus Sicht des Kindes. Gerade wenn eine Platzierung unorganisiert oder plötzlich beginnt, fehlt oft dieses Narrativ, das allem einen Sinn geben kann.

In den Empfehlungen und in der Kinderrechtskonvention wird die Partizipation des Kindes in den unterschiedlichen Prozessen betont.

Genau. Aber Partizipation heisst nicht, das Kind wählen zu lassen, ob es in das Kinderheim A oder B will. Die Partizipation beginnt viel früher. In unserer Forschung sind wir zum Beispiel einem Jugendlichen begegnet, der körperlich von seinem Vater misshandelt und dann in einem Heim platziert wurde. Er wurde nicht in die Entscheidungen über sein Leben einbezogen und hat auch nie verstanden, wieso er jetzt die Familie verlassen musste und nicht der Vater. Dabei ist die Bereitschaft, sich an einem anderen Ort erziehen und bilden zu lassen, für das Gelingen einer Platzierung sehr wichtig. Das Kind muss involviert werden und Fachentscheide müssen legitimiert sein.

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Erfahrungsbericht: Professionalität, Empathie und Distanz

Seit sieben Jahren leben zwei Brüder bei der Familie Gerber. Die zwei Buben wachsen dort mit vier Pflegegeschwistern auf. Heute sind sie 10 und 14 Jahre alt. «Wir haben ein gutes Verhältnis zum Vater», erklärt Urs Gerber. Doch das sei viel Arbeit gewesen, ergänzt seine Frau. Durch diese gute Beziehung haben die Pflegeeltern nicht das Gefühl, dass die Kinder von einer zusätzlichen Vertrauensperson profitieren könnten. «Die Praxis sieht oft anders aus als Empfehlungen und reglementierte Prozesse», betonen die Gerbers. Ausserdem litten Kinder schon genügend unter Loyalitätskonflikten zwischen leiblichen und Pflegeeltern. Mit einer zusätzlichen Bezugsperson könnte das noch mehr Konflikte geben, befürchten sie.

Die Pflegeeltern sind froh, dass sie bereits seit Beginn des Pflegeverhältnisses die gleiche zuständige Person beim Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) haben. «Man kennt sich, auch wenn sie nur einmal im Jahr vorbeikommt», erzählt Gabriella Gerber. Der Pflegevater ist beeindruckt von der Professionalität der Zuständigen: «Sie ist empathisch und bewahrt trotzdem genügend Distanz zu uns als Familie. Sie ist an unserer Familie und den Kindern interessiert, ohne in unser Privates zu dringen.»

Zur Vorbereitung schickt die Aufsichtsperson einen Fragebogen, der vor allem die Situation der Buben klärt. Der angekündigte Besuch dauere dann 1,5 bis 2 Stunden. «Am Anfang hat sie sich auch allein mit unseren Pflegekindern unterhalten. Dank ihrer grossen Menschenkenntnis ist das heute nicht mehr nötig. Auffälligkeiten würde sie auch so bemerken», ist der Pflegevater überzeugt. Überhaupt: Die Gerbers fühlen sich nicht kontrolliert oder beaufsichtigt, sondern ermutigend begleitet.

Obwohl der Aufsichtsbesuch nur einmal jährlich stattfindet, fehlt den Pflegeeltern nichts. «Wir können jederzeit anrufen, wenn wir ein Anliegen haben. Und die Beiständin ist auch noch da und fängt allfällige Themen auf», sagt die Pflegemutter. Allerdings habe die Beiständin jährlich gewechselt. «Die Beistände haben immer angeboten, noch eine neutrale Vertrauensperson zu benennen, aber wir waren der Meinung, dass das nicht nötig ist», erklärt Urs Gerber. Die Kinder hätten ja auch noch Sportvereine oder Klassenlehrer – also verschiedene Bezugspersonen, die nicht eine offizielle Rolle haben.

Ausserdem sehen die Gerbers es auch als ihren Job als Pflegeeltern, die Bedürfnisse der Kinder hörbar zu machen. «Wir bereiten sie auf die Besuche vor, erklären ihnen, wer kommt und welche Aufgaben die Person hat», betont Gabriella Gerber. In der Zeit, seit die Kinder bei ihnen leben, hätten sie zuzuhören gelernt, für sich einzustehen und zu insistieren: «Und wenn nötig, stehen wir ihnen coachend zur Seite.»

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