Recht auf Gleichbehandlung

29. 09. 2025 | Fachwissen | 0 Kommentare

Umfrage- und Studienergebnisse sowie langjährige Erfahrungen von Behandelnden zeigen die gesundheitliche Benachteiligung von Kindern, die in Pflegefamilien oder Heimen leben. Deshalb wurden im Auftrag von Pädiatrie Schweiz, dem Kollegium für Hausarztmedizin (KHM) und der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder‑ und Jugendpsychiatrie und ‑Psychotherapie (SGKJPP) zehn Empfehlungen zur Gesundheitsversorgung dieser Kinder erarbeitet.

Von Maria Mögel und Oskar Jenni, Abteilung Entwickllungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich

Kinder aller Altersgruppen, die in Institutionen oder Pflegefamilien und nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können, haben einen Anspruch darauf, dass ihre Gesundheit ebenso sorgfältig verfolgt wird wie bei Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien gross werden.

Warum hierfür eigene Empfehlungen notwendig sind, zeigt sich, wenn man die erhöhten gesundheitlichen Belastungen und die Hürden in der Gesundheitsversorgung berücksichtigt, mit denen Kinder aller Altersstufen und auch Careleaver, die nach der Zeit in einer Pflegefamilie oder einem Heim auf sich allein gestellt sind, konfrontiert sind.

Zwar werden in der Schweiz weder einheitliche Daten zur ausserfamiliären Unterbringung noch zu den Gesundheitsverläufen von Kindern in Heimen oder Pflegefamilien erhoben. Aber langjährige Praxiserfahrungen am Kinderspital Zürich sowie die Ergebnisse internationaler Studien aus Ländern mit vergleichbaren Gesundheitssystemen decken sich mit einer nicht repräsentativen Online-Umfrage, die wir bei der Schweizerischen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin «Pädiatrie Schweiz» in deutscher, französischer und italienischer Sprache durchführten (Mögel & Jenni, 2023).

Leiden wurzeln oft in aversiven Erfahrungen

Die befragten Kinderärzte und -ärztinnen hatten den Eindruck, dass die körperliche Gesundheit und ganz besonders auch die psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen, die in Heimen oder Pflegefamilien leben, stärker beeinträchtigt war und dass sich bei ihnen auch häufiger Entwicklungsstörungen zeigten, als bei Kindern, die in den Herkunftsfamilien aufwuchsen. Auf der körperlichen Seite wurden besonders Zahnschäden und fehlende Impfungen sowie häufige Infekte bei Kleinkindern und auch die für Pflegeeltern anspruchsvolle Betreuung von Säuglingen nach einer Entzugsbehandlung in der Neugeborenenzeit genannt.

Daneben fiel den Befragten das erhebliche Ausmass an sprachlichen, kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklungsverzögerungen bei den betroffenen Kindern auf. Mit zunehmendem Alter der Kinder wurde ihre psychische Befindlichkeit als überdurchschnittlich stark belastet eingeschätzt. Bei den Jugendlichen ergaben sich in der Umfrage viele Hinweise auf problematische Entwicklungsverläufe und gelegentlich auf unkontrollierte Medikamenteneinnahme und das Fehlen einer hausärztlichen Betreuung.

Viele dieser gesundheitlichen Leiden wurzeln zwar in aversiven Erfahrungen der Kinder oder Krankheitsbelastungen in ihren Herkunftsfamilien. Sie werden aber nicht selten durch ungünstige Umstände oder Verläufe im Prozess der ausserfamiliären Pflege verstärkt: Orts- und damit Bezugspersonenwechsel und damit abgebrochene Fördermassnahmen oder Behandlungen, aber auch ein Kind überfordernde Settings wie zu lange Aufenthalte in Institutionen in der frühen Kindheit, Verunsicherung durch unklare Pflege- und Besuchsverhältnisse oder Unvertrautheit der neuen Bezugspersonen mit den Bedürfnissen des Kindes.

Fehlende Informationen erschweren Betreuung

Auch können unklare Absprachen und personelle Wechsel beziehungsweise Konflikte im Bezugspersonen- und Helfernetz und Unsicherheiten der Behandelnden über Zuständigkeiten und Ansprüche an die Dokumentation im Helfersystem der Kinder zu Unterbrüchen bzw. Lücken in der Gesundheitsversorgung der betroffenen Kinder und Jugendlichen führen.

So gab die Mehrheit der befragten Kinderärzte und -ärztinnen in der Online-Umfrage an, die Kinder und Jugendlichen vor allem in Vorsorgeuntersuchungen gesehen zu haben und ein Drittel (29 Prozent) der Konsultationen habe nur im Rahmen von Notfallkonsultationen stattgefunden. Verordnete Fördermassnahmen (wie beispielsweise Physiotherapie, Ergotherapie, heilpädagogische Früherziehung oder Logopädie) waren bei etwa einem Drittel der Fälle abgebrochen oder überhaupt nicht wahrgenommen worden. Die Kontinuität und Verlässlichkeit sowohl bei Akutbehandlungen als auch bei Vorsorgeuntersuchungen wurde von 48 Prozent der Befragten als uneinheitlich beurteilt. Fast 10 Prozent empfanden sie als unzureichend für eine angemessene Gesundheitsversorgung und gaben hierzu Beispiele an, dass bei Wechseln der Pflegefamilie oder Institution die behandelnde medizinische Fachperson nicht informiert und damit eine Weitergabe der Krankengeschichte und der Gesundheitsdaten der Kinder verunmöglicht wurde.

Schliesslich wiesen die Teilnehmenden der Online-Umfrage darauf hin, dass fehlende Informationen über die gesundheitliche Vorgeschichte (Anamnese), frühere Behandlungen der Kinder sowie zur Familienanamnese die Gesundheitsbetreuung erheblich erschweren. Dies, obwohl die individuelle Zusammenarbeit mit Eltern, Pflegeeltern, Heimen, Beistandspersonen und Behörden von den Befragten von 71 Prozent als meist gut, von 27 Prozent als unterschiedlich und nur von 2 Prozent als meist unbefriedigend erlebt wurde. Einige Befragte berichteten wie zeitaufwändig und herausfordernd es in einem vollen Praxisalltag ist, von schwer kranken oder schlecht erreichbaren Eltern etwa die elterliche Zustimmung zu einer Untersuchung oder Behandlung einzuholen. Als schwer verständlich oder gar als Beeinträchtigung des Kindeswohls beurteilten einige der befragten Kinderärztinnen und -ärzte, dass Eltern das Entscheidungsrecht über medizinische Behandlungen des Kindes selbst dann behalten, wenn sie ihrerseits unter Beistandschaft stehen oder ihr Besuchsrecht nur eingeschränkt oder unter Aufsicht ausüben können. Sie würden sich wünschen, dass in solchen Fällen rascher das Entscheidungsrecht für medizinische Behandlungen auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet werden könnte. Inhaltlich betraf dies vor allem Impfungen, Behandlungen mit Methylphenidat (Ritalin) wegen ADHS oder die Notwendigkeit von psychotherapeutischen Behandlungen.f

Viele Organisationen beteiligt

Aufgrund dieser Rückmeldungen erhielten wir den Auftrag von Pädiatrie Schweiz, dem Kollegium für Hausarztmedizin (KHM) und der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder‑ und Jugendpsychiatrie und ‑Psychotherapie (SGKJPP) unter Mitwirken von weiteren Fachgesellschaften, Organisationen und Experten und Expertinnen, die zum Helfernetz der betroffenen Kinder gehören, Empfehlungen zur gesundheitlichen Versorgung von ausserfamiliär untergebrachten Kindern auszuarbeiten.

Wir orientierten uns dabei an Vorlagen aus den USA, England und Australien, die mit der Umsetzung solcher Empfehlungen schon Erfahrungen gemacht haben. Um es vorwegzunehmen: Die Schweiz ist somit das vierte Land weltweit, das die Rechte der betroffenen Kinder auf Gleichbehandlung in der Gesundheitsversorgung mit einer Reihe von interdisziplinär erarbeiteten Empfehlungen und weiteren Begleitunterlagen einfordert.

Inzwischen wurden von den beteiligten Fachgesellschaften die insgesamt zehn Empfehlungen zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung von ausserfamiliär aufwachsenden Kindern in der Schweiz verabschiedet. Inhaltlich waren dabei neben den auftraggebenden Fachgesellschaften folgende Organisationen vertreten: Kinder- und Jugendmedizin (pädiatrische Grundversorger, Versorgungsforschung, Universitäts-Kinderspital Zürich, Kantonsspital Winterthur), Kinder-und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Klinik Somosa, KJPD Aargau, Klinik Sonnenhof, SUPEA Lausanne, UPK Basel), das Marie Meierhofer Institut für das Kind, die Schweizer Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie SKJP sowie verschiedene Fachleute aus dem medizinischen Kindesschutz. Aus den Bereichen Recht und Kindesschutz beteiligten sich Vertreterinnen von KOKES und der Universität Zürich (Patienten- und Patientinnenrechte), aus den Bereichen Sozialpädagogik Institutionen wie INTEGRAS und YOUVITA, sowie der Sozialdirektoren Konferenz Schweiz (SODK); für die Betroffenen waren Pflegefamilienorganisationen (ESPOIR, TEAM-WERK, Bussola, Fachstelle Pflegekinder St. Gallen), Vertreterinnen von PACH und der Pflegekinderforschung (ZHAW) und nicht zuletzt die Betroffenenorganisation CARELEAVER Schweiz beteiligt.

Richtet sich an ganzes Unterstützungs- und Bezugspersonennetz

Die zehn Empfehlungen sollen ein Bewusstsein für die besonderen Gesundheitsfragen von Kindern schaffen, die in Institutionen oder Pflegefamilien leben. Zugleich wollen sie Hindernisse in der Gesundheitsversorgung dieser Kinder beseitigen. Sie stellen das Wohlbefinden der Kinder und ihre Gesundheit ins Zentrum der Planung einer ausserfamiliären Unterbringung und schlagen Mindeststandards zur gesundheitlichen Versorgung vor. Die Empfehlungen werden begleitet von einem Argumentarium mit fachspezifischen Hintergrundinformationen auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Darin werden die Rahmenbedingungen von Pflegeverhältnissen in der Schweiz sowie altersspezifische Aspekte der Kindergesundheit berücksichtigt. Zudem bezieht es in Beispielen die Erfahrungen der Betroffenen beziehungsweise ihres Umfelds und die der Behandelnden mit ein.

Die Empfehlungen und das Argumentarium richten sich an das gesamte Unterstützungs- und Bezugspersonennetz der Kinder, insbesondere an:

  • Behandelnde Ärzte und Ärztinnen und medizinische Fachpersonen – in einem spezifischen Leitfaden für Gesundheitsversorger und -versorgerinnen.
  • Eltern oder andere gesetzliche Vertreter und -Vertreterinnen (zum Beispiel Mandatspersonen) – in einem eigenen Leitfaden für Eltern.
  • Bezugspersonen im Alltag – in der Regel Pflegeeltern oder Sozialpädagogen und -pädagoginnen in Institutionen, die die Kinder hauptsächlich betreuen, bei Krankheit pflegen und ihr Vertrauen geniessen.
  • Weitere beteiligte Fachpersonen des Helfernetzes – zum Beispiel Sonderpädagogen und -pädagoginnen, Psychotherapeuten und -therapeutinnen, Fachleute der Logopädie und andere Therapierende, die ein Kind begleiten.
  • Fachpersonen der verantwortlichen Behörden – wie KESB, Gerichte und Aufsichtsbehörden.

Ihnen allen sollen die Empfehlungen einen Orientierungsrahmen für die gemeinsame Gesundheitsbetreuung der betroffenen Kinder bieten:

  • Sind die Ziele und Vorgehensweisen der Gesundheitsvorsorge, Behandlung und Förderung im Prozess des Wechsels des Kindes in eine Pflegefamilie oder in eine Institution von Beginn an geklärt?
  • Werden diese Ziele im besten Interesse des Kindes und seines gesundheitlichen Wohlbefindens sichergestellt?
  • Ist die Kontinuität der Gesundheitsbetreuung beziehungsweise der Behandlung und bestehender Fördermassnahmen gewährleistet?
  • Wie kann das Kind altersgemäss und seinen Bedürfnissen entsprechend an seiner Gesundheitsversorgung partizipieren?
  • Sind die Kommunikationswege zu den gesundheitlichen Belangen des Kindes im häufig komplexen Umfeld geklärt?

Darüber hinaus sollen die Empfehlungen die gesundheitlichen Ansprüche der betroffenen Kinder aller Altersstufen auch gegenüber administrativen und politischen Entscheidungsträgern festhalten und – als Fernziel – in die Revision der PAVO als zentrales Element von Standards für die Betreuung von Minderjährigen in Pflegefamilien oder Institutionen einfliessen.

Weitere Anliegen der Empfehlungen sind, dass das Thema Gesundheit ausserfamiliär aufwachsender Kinder mehr in die Ausbildung der verschiedenen Gesundheitsberufe einfliesst und auch in der Schweiz energischer beforscht wird.

Die nun bereitgestellten Unterlagen können ein Anfang sein, den Gesundheitsbedürfnissen der betroffenen Kinder und Jugendlichen fokussierter Aufmerksamkeit zu schenken und die eigene Praxis sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit danach auszurichten. Weitere Schritte sind notwendig wie zum Beispiel die Erstellung gesonderter Leitfäden zum Thema Gesundheitsversorgung für Care Leaver, für Pflegeeltern und für Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen in den Heimen.

Einstweilen sind alle bisher erstellten Unterlagen auf der Website von pädiatrie Schweiz in den drei Landessprachen abrufbar.

Ausserdem freuen wir uns darauf, im Rahmen der Fachtagung des Fachverband DAF am 29. Oktober 2025 die Empfehlungen detailliert vorstellen zu können.

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