Pflegefamilien und Professionalität

14. 11. 2024 | Pflegefamilie, Fachwissen | 0 Kommentare

Was eine Pflegefamilie ist, scheint auf den ersten Blick selbstverständlich: eine Familie, die mit einem Pflegekind zusammenlebt. Bei näherer Betrachtung ist es komplizierter: Welche Rolle soll die Pflegefamilie für das Pflegekind und dessen Herkunftsfamilie einnehmen? Was erwarten Pflegekinder, Herkunftseltern, Fachpersonen und Kantone von Pflegefamilien?

von Andrea Huber

Fragen wie diese wurden im Kontext des Projekts «Bilder der Pflegefamilie» (2021–2024) an der ZHAW bearbeitet. In Interviews und Gruppendiskussionen mit Pflegekindern, Pflegefamilienmitgliedern und Fachpersonen wurde diskutiert, ob und in welcher Hinsicht Pflegefamilien selbst «professionell» sein sollen. Die Diskussion erwies sich als sehr kontrovers. Darum veranstalteten wir im Oktober 2023 zusammen mit PACH einen Workshop für Fachpersonen zum Thema. Die Haupterkenntnis: Jeder Kanton, jede Organisation und jede Fachperson definierten professionelles Handeln individuell. Entsprechend sind Grundhaltungen, fachliches Wissen und Abläufe nicht überall ausreichend fachlich begründet und nachvollziehbar gestaltet. Dies kann zu wiederholten Rollenkonflikten und zeitaufwendigen Klärungsgesprächen zwischen den Beteiligten führen. Dieser Artikel soll dazu dienen, die Diskussion innerhalb der vielfältigen Akteure in der schweizerischen Pflegekinderhilfe anzuregen. Immer mit der Perspektive auf die Frage: Welche Rahmenbedingungen brauchen Pflegekinder für ein gelingendes Aufwachsen? (Cantwell et al., 2012)

Professionell – was ist das?

Unter dem Oberbegriff der «Professionalität » verbergen sich unterschiedliche Bedeutungsgehalte. Der wissensbasierte Ansatz geht davon aus, dass Professionalität durch Wissensvermittlung und Bildungsprozesse geschaffen wird. Diesem Ansatz folgend, müssen Pflegefamilien zu verschiedenen Themen geschult und fortgebildet werden, um «professionell» zu sein. Oder sie müssen über eine bestimmte Vorbildung verfügen, etwa einen pädagogischen Beruf. Dieses Wissen ermöglicht Handlungskompetenzen, die ausgebildeten Pflegefamilien dabei helfen, die Herausforderungen des Pflegefamilieseins zu bewältigen.

Teilweise alternativ, teils ergänzend zum Wissensansatz wird Professionalität als Frage der Haltung verstanden. Diese Definition zielt vor allem auf die Reflexion des egenen Fühlens und Agierens als Pflegeeltern ab. Pflegeeltern sollen demnach durch Professionalisierung in die Lage versetzt werden, eine reflexive Elternschaft zu leben. Dies ermöglicht ein Ausbalancieren von Nähe und Distanz in der Beziehung zum Pflegekind sowie zur Herkunftsfamilie des Kindes und prägt auch die Kooperation mit Fachpersonen.

Über Wissen und Haltungen hinaus geht die Diskussion um Professionalität von Pflegeeltern mit der Frage einher, ob Pflegeelternsein ein Beruf, ein Berufsersatz oder ein Lebensmodell sein sollte. Daraus resultieren Fragen nach Entschädigung oder einem Gehalt; nach dem Umfang, in dem Pflegeeltern ausser Haus berufstätig sein können oder dürfen; nach der Betreuung der Pflegekinder während der Erwerbstätigkeit der Eltern.

Die Chancen?

Fachpersonen und Pflegeeltern, die eine intensive Professionalisierung von Pflegeeltern befürworten, sind der Meinung, umfassendes Wissen und die Fähigkeit zur Reflexion über die eigene Haltung seien zentral für das Zusammenleben mit Pflegekindern. Argumentiert wird, dass dies vor allem für das Zusammenleben mit Pflegekindern gilt, die besondere Bedürfnisse haben und/oder eine schwierige Vorgeschichte mitbringen. Es wird davon ausgegangen, dass es professionalisierten Pflegefamilien besser gelingt, auf besondere Bedürfnisse, mögliche Traumatisierungen sowie andere Vulnerabilitäten aus der Vorgeschichte des Kindes einzugehen und Nähe und Distanz besser auszubalancieren. Mangelt es an Professionalität, können gemäss dieser Argumentation Verhaltensweisen von Kindern und deren Eltern nicht oder ungenügend verstanden werden. Interventionen seien darum oft zu wenig spezifisch und deren Planung sei erschwert. Dies könne zu einem Leidensdruck bei den Pflegekindern und ihren Eltern führen, aber auch zu Abbrüchen der Pflegeverhältnisse und zu teuren Interventionen, die wenig zielführend seien und manchmal verspätet stattfänden.

Aufgabe der Fachpersonen ist es nach diesem Ansatz, die Pflegefamilien aus- und fortzubilden und durch Coaching und Beratung stetig zu begleiten. Manche Fachpersonen gehen davon aus, dass Pflegefamiliesein in der professionalisierten Variante ein Beruf sein muss; mit entsprechender Vergütung. Für die Kinder in solchen Pflegefamilien kann dies aufgrund der zusätzlichen Zeitressourcen der Pflegeeltern hilfreich sein. Es kann aber auch zu schwierigen Fragen führen, etwa bezüglich der Motivation der Pflegefamilie und der eigenen Zugehörigkeit. Es sind Fragen wie «Gehöre ich noch zur Familie, wenn diese kein Gehalt mehr dafür bekommt?», «Was
für ein Familienmitglied bin ich?», insbesondere wenn das Pflegeverhältnis endet. Solche Fragen können auch entstehen, wenn die Pflegefamilie beispielsweise aufgrund
ihres Ferienanspruchs ohne das Kind Ferien und Wochenenden verbringt und das Pflegekind dann bei einer «Entlastungsfamilie» ist. Hier zeigt sich exemplarisch das
Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen der Pflegeeltern und denen des Kindes in Bezug auf das «Normal-sein-Wollen».

Die Risiken?

Pflegeeltern und Fachpersonen, die einer Professionalisierung von Pflegefamilien kritisch gegenüberstehen, argumentieren, es sei gerade der private und familiale Rahmen, der Pflegefamilien besonders wirksam mache. Die Familialität bildet in dieser Argumentation einen Gegensatz zur Professionalität und soll mehr Normalitätserleben für das Kind garantieren. Während das Familiale für Nähe, Emotionalität und eine positive menschliche Imperfektion steht, wird Professionalität mit Distanz und Struktur gleichgesetzt. Daher gehen manche Autor:innen und Fachpersonen gar davon aus, dass zu viel Professionalisierung die Wirksamkeit von Pflegefamilien für die Kinder zerstören könnte (Winkler, 2019). In dieser Vorstellung sollte die Pflegefamilie idealerweise «einfach Familie» sein. Die Professionalität des Settings muss diesem Ansatz zufolge für alle Pflegefamilien über eine intensive, dauerhafte und qualifizierte fachliche Begleitung sichergestellt werden. Diese soll den Pflegefamilien mit grosser Achtsamkeit, Sorgfalt und einem hohen Respekt gegenüber der individuellen Lebensform beziehungsweise der Lebensgemeinschaft mit Pflegekind begegnen. Mangelt es an Qualität bei den Pflegeeltern, liegt die Verantwortung dafür bei den verschiedenen beteiligten Fachpersonen. Als spannungsreich wird dieser Ansatz von Pflegefamilien dann erlebt, wenn sie einerseits «einfach Familie» sein sollen und für das Pflegefamiliesein auch nur eine Aufwandsentschädigung erhalten, und andererseits – aus ihrer Sicht oft hohe – Erwartungen an sie gestellt werden, etwa eine (starke) Einschränkung der Berufstätigkeit ausser Haus oder die zeitlich und fachlich intensive Zusammenarbeit mit Fachpersonen und Herkunftsfamilien.

Alternative Ansätze

Fachpersonen sind sich trotz aller Differenzen und offener Fragen einig: Es braucht in erste Linie schweizweit eine Professionalisierung des Systems der Pflegekinderhilfe. Dazu braucht es einen für alle Kantone gültigen gesetzlichen Rahmen. Und es braucht Professionalität bei Fachpersonen und Behörden, damit diese die anspruchsvollen
Aufgaben in der Auswahl, Schulung und Begleitung von Pflegefamilien leisten können.

In der Frage der Professionalisierung von Pflegefamilien könnte ein Ansatz sein, den Gegensatz zwischen Professionalisierung und Privatheit/Familialität zu hinterfragen und zu überwinden. Der Soziologe Fritz Schütze argumentiert bereits seit Jahrzehnten (z.B. Schütz, 2000), dass sich in Fragen der Pädagogik Alltagswissen und wissenschaftliches Wissen vermischen. Dieser Ansatz bringt zwar Paradoxien und Spannungsfelder mit sich. Er führt aber idealerweise auch dazu, dass Menschen – in diesem Fall Pflegeeltern – situationsadäquat bewusst auf Alltagswissen und -handeln oder auf theoretische Wissensbestände zurückgreifen können. Möglicherweise könnte ein integrativer Ansatz sinvoll sein: Pflegefamilien werden ausgebildet und den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend geschult. Innerhalb der Familie und auch in der Begleitung reflektieren sie regelmässig, in welchen Situationen das erworbene Wissen als Ressource zur Alltagsbewältigung genutzt werden kann und in welchen es den Rückgriff auf gelingendes Alltagshandeln braucht. Alles mit dem Ziel, gute Bedingungen zu schaffen, in denen sich Pflegefamilien den individuellen Bedürfnissen des einzelnen Kindes möglichst flexibel anpassen können.

Wer ist interessiert an der weiteren Diskussion?
Hinterlassen Sie einen Kommentar oder schreiben Sie direkt an Daniela Reimer:
remr@zhaw.ch

Co-Autorinnen

Franziska Beer, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin FH, Geschäftsleiterin Fachstelle Kinderbetreuung Luzern, Pflegekinder-Aktion Zentralschweiz
Susanna Schwab, Mutter eines platzierten Kindes, MS-Erkrankte, IV-Rentnerin
Lesley Bailer, Co-Leiterin Schweizerische Fachstelle Pflegefamilie SFP
Daniela Hess, Fachleitung DAF Schulheim Elgg

book

LITERATUR

Cantwell, N.; Davidson, J.; Elsley, S.; Milligan, I.; Quinn, N. (2012). Moving Forward: Implementing the «Guidelines for the Alternative Care of Children». UK: Centre for Excellence for Looked After Children in Scotland.

Deutsche Version online:
www.iss-ssi.org/storage/2023/04/Moving_Forward_German.pdf

Schütze, Fritz (2000). Schwierigkeiten bei der Arbeit und Paradoxien des professionellen Handelns: ein grundlagentheoretischer Aufriß. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, 1(1), S. 49-96. Schmid, M., Kölch, M., Fegert, J. M., Schmeck, K. & MAZ-Team. (2013). Abschlussbericht Modellversuch Abklärung und Zielerreichung in stationären Massnahmen. Bern, Bundesamt für Justiz.

Winkler, Michael (2019). Über Pädagogik – mit Blick auf familiäre Lebensformen. In: Reimer, Daniela (Hg.), Sozialpädagogische Blicke. Weinheim: Beltz Juventa, S. 147–165.

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