Im Jahr 1977 wurde ich von meiner damaligen Pflegefamilie adoptiert. In der Folge habe ich schwere Misshandlung und Missbrauch durch meine Adoptiveltern bzw. ehemaligen Pflegeeltern erfahren. Habe ich trotz Adoption Anspruch auf Unterstützung und einen Solidaritätsbeitrag vom Bund?
Menschen, die vor 1981 Opfer einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme oder Fremdplatzierung geworden sind, haben Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von einmalig 25’000 Franken. Dieser soll ein Zeichen der staatlichen Anerkennung des erlittenen Unrechts sein. Opfer einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme oder Fremdplatzierung ist, wer beispielsweise als Heim-, Pflege- oder Verdingkind misshandelt, ausgebeutet oder missbraucht wurde.
Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 5. Mai 2023 (2C_393/2022) die Opfereigenschaft eines fremdplatzierten Kindes auch nach der Adoption bejaht (1). Für das bei einer fremden Familie vor 1981 behördlich untergebrachte Kind darf es gemäss Bundesgericht keinen Unterschied machen, ob diese Familie vor der Adoption als Pflegefamilie oder erst nach der Adoption Integritätsverletzungen begangen hat (vgl. dazu auch die Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 1.6.2023).
Dafür hat das Bundesgericht eine vertiefte Auslegung vom AFZFG vorgenommen und ist zum Schluss gekommen, dass ein Kind auch nach einer Adoption durch seine Pflegeeltern als fremdplatziert gilt. Aus der Perspektive des Kindes ist im Grundsatz diejenige Familie, in die es geboren wurde, die “eigene” und jede andere Familie eine “fremde”. Die Unterbringung bei der Pflegefamilie ist folglich als Ursprung der vom Kind erlittenen Integritätsverletzungen zu sehen, zumal die Verantwortung für die Auswahl der Pflege- und späteren Adoptivfamilie bei den Behörden lag. Das Kind kann somit die Opfereigenschaft gemäss AFZFG erfüllen.
Wir empfehlen Ihnen deshalb mit dem Bundesamt für Justiz Kontakt aufzunehmen, damit Ihre Geschichte individuell geprüft werden kann. Für eine Beratung können Sie sich auch an die kantonale Anlaufstelle Ihres Kantons wenden. Falls Sie vor dem genannten Urteil ein Gesuch beim Bundesamt für Justiz eingereicht haben, das aufgrund der erfolgten Adoption abgelehnt wurde, empfehlen wir Ihnen, sich erneut mit dem Bundesamt für Justiz in Verbindung zu setzen.
(1) Vgl. dazu auch die Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 01.06.2023