Susan und Daniel waren sieben Jahre lang ein Paar. Sie lebten zusammen mit Susans Sohn Thore in Daniels Haus. Susan erkrankte an Krebs und starb 2022 – Thore war damals 13 Jahre alt. Er wünschte sich, bei Daniel bleiben zu dürfen. So wurde Daniel Thores Pflegevater. Eine berührende Geschichte über ungewöhnliche Wege und die Kraft, ein Zuhause zu schaffen.
Von Andrea Huber
Vor zehn Jahren reiste Daniel Krieg in ein Yoga-Zentrum im Süden Spaniens. Er hatte sich dort als Volontär gemeldet, um einen Monat vegan zu kochen. Dabei versprach er sich etwas Abwechslung von seinem Alltag als Rätselerfinder und freute sich auf ein Haus voller Menschen. Er war zu diesem Zeitpunkt 53 Jahre alt. Seine beiden erwachsenen Töchter waren längst ausgezogen, und das Haus wirkte manchmal zu gross.
Im Yoga-Zentrum lernte Daniel Thore kennen. Er erinnert sich gut an den ersten Kontakt mit dem damals sechs Jahre alten Jungen: «Ich sah ein blondes Kind mit langen Haaren in der Küche sitzen und stellte zwei Fragen, die unpassender nicht hätten sein können: ‹In welche Klasse gehst du?› und ‹Wo wohnst du normalerweise?›.»
Eine Kindheit auf Reisen
Thore ging nämlich gar nicht zur Schule. Sie waren immer wieder auf längeren Reisen. Seine Mutter Susan machte mit ihm Homeschooling. Ihre Heimat war Deutschland, wo sie viele Jahre gelebt hatten. «Das machte mir nichts aus», erzählt Thore. «Es war normal für mich.» So lernte Thore früh, sich auf neue Situationen einzulassen und neue Kontakte zu schliessen.
Daniel und Susan verliebten sich Hals über Kopf. Als Daniel nach ein paar Wochen zurück in die Schweiz musste, versprach er, dass er schon bald zurückkommen werde. Susan war nicht sicher, ob er das ernst meinte. Doch Daniel hielt es nicht lange aus ohne sie. Schon einen Monat später war er zurück in Spanien.
«Ich hatte Angst, dass mir Daniel meine Mutter wegnimmt.»
Wegen der Liebe in die Schweiz
Schon bald lud Daniel Susan und Thore ein, gemeinsam an die Fasnacht in die Schweiz zu fahren. «Mama sagte, das sei nur für ein paar Wochen», erinnert sich Thore. Doch sie nahmen das ganze Gepäck mit und blieben auch nach der Fasnacht bei Daniel. Sie wohnten jetzt dort. Das passte Thore anfangs gar nicht: «Ich hatte Angst, dass mir Daniel meine Mutter wegnimmt.» Thore hatte nun sein eigenes Zimmer im grossen Haus. Susan schlief in Daniels Bett. «Ich mochte ihn darum anfangs nicht», erzählt der heute 16-Jährige. Irgendwann gewöhnte sich Thore an die Situation. Oft blieb seine Mama bei ihm, bis er einschlief. Susan begann, in derselben Firma wie Daniel zu arbeiten. Sie und Thore bekamen die Aufenthaltsbewilligung. Fünf Jahre lang lebten die drei zusammen. Das Haus von Daniel war Thores Daheim.
Diagnose Darmkrebs

2019 erhielt Susan die Diagnose Darmkrebs. Die Behandlungen waren sehr anstrengend und herausfordernd für sie. Sie brauchte nun mehr Raum für sich und Thore. Die beiden zogen 2020 in eine Wohnung in einem nahegelegenen Dorf. Für Thore war das nicht ein Ende, sondern ein Neuanfang: «Das Haus von Dani hatte sich wie mein Zuhause angefühlt, und trotzdem fand ich es auf positive Weise aufregend, wieder umzuziehen», erinnert er sich. Ausserdem hatte er seine Mama wieder für sich allein. Er fühlte sich sicher. «Mama vermittelte mir das Gefühl, dass sie wieder gesund werden würde und glaubte auch fest daran.» Daniel und Susan blieben trotz räumlicher Trennung ein Paar.
Mitten in der Corona-Pandemie, im Spätsommer 2021, wurde Susan die Wohnung gekündigt. Eine medizinische Untersuchung ergab, dass sich bei Susan ein neuer Tumorableger gebildet hatte, die Krankheit weiter fortschritt. Vorübergehend wohnten Susan und Thore wieder bei Daniel, doch Susan brauchte eine Veränderung: Ein paar Wochen später packte sie die Koffer und fuhr anfangs Dezember 2021 mit Thore nach Süditalien. «Wir waren dort in einem Haus mit Menschen aus ganz Europa», erzählt Thore. «Es gab dort viele Kinder in meinem Alter, es gefiel mir sehr.»
Übergang in ein anderes Leben
Die Zeit in Italien ging aber schon nach kurzer Zeit abrupt zu Ende, denn Susans Gesundheitszustand verschlechterte sich rasant. Im März 2022 bat sie Daniel um Hilfe, weil sie aus eigener Kraft nicht zurückreisen konnte. «Da war ein Kind, ein volles Auto, ein Hund, eine kranke Frau und Corona-Reisebeschränkungen», erzählt Daniel nachdenklich. Er reiste nach Italien und schaffte es dank dem Einsatz von Freunden, Susan wieder in die Schweiz zu holen. Daniel machte ihr ein Zimmer bereit und war fortan ihr Betreuer. Ihm war zu diesem Zeitpunkt klar, dass er sie in den Tod begleiten würde. Susan hingegen war sich sicher, dass ein Wunder sie retten würde. Sie lebte sehr zurückgezogen, konnte kaum mehr nach draussen gehen. «Ich war einfach da, wenn sie mich brauchte, mischte mich aber nicht ein – sie ging ihren eigenen Weg», erzählt Daniel.
«Das war eine Art Übergang in eine neue Beziehung, noch vor ihrem Tod.»
Wo soll Thore leben?
Mama lebte jetzt im oberen Stock, Thore und Daniel führten unten einen Alltag. Das war eine schwere Zeit für Thore. «Mit der Zeit konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie es war, als Mama gesund war.» Hund Nemo war oft ein Trost für den Dreizehnjährigen. In dem halben Jahr bis zu Susans Tod entstand zwischen Thore und Daniel eine Nähe, die es zuvor nicht gegeben hatte. «Das war eine Art Übergang in eine neue Beziehung, noch vor ihrem Tod», fasst Daniel zusammen. «Mama sprach mit mir über den Tod und fragte mich auch, wo ich leben möchte», sagt Thore. Für ihn war klar: Bei Daniel. Das war sein Zuhause. Zu seinem Vater in Deutschland hatte er wenig Kontakt. Susan hielt schliesslich schriftlich fest, dass Thore nach ihrem Tod bei Daniel leben sollte.
«Thores Zuhause ist hier»
Daniel war Mitte zwanzig Vater geworden von zwei Töchtern. Jetzt war er Ende fünfzig, vierfacher Grossvater und unabhängig. Dass er in dieser Lebensphase erneut Verantwortung für ein Kind übernimmt, ist alles andere als selbstverständlich. Für ihn war aber klar, dass Thore bei ihm bleibt, wenn dieser sich das wünscht. «Ich konnte und wollte den Jungen nicht im Stich lassen», sagt er mit Nachdruck. Noch vor Susans Tod nahm er mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Kontakt auf, um alles für Thore vorzubereiten.
Pflegevater und Pflegesohn
Als Susan bereits im Sterbehospiz war, rief Daniel Thores Vater an. Dieser war sehr betroffen – und verunsichert bezüglich seiner Rolle, Rechten und Pflichten. Er war aber einverstanden, dass Thore bei Daniel bleibt. Es war ihm ein Anliegen, dass Thore nicht seinem gewohnten Umfeld entrissen wird, sondern in seiner gewohnten Lebenswelt bleiben kann. Es geschah kein Wunder: Susan starb Anfang November 2022. Sie wurde nur 42 Jahre alt. Thore verlor seine geliebte Mama im Alter von 13 Jahren. Dass er bei Daniel bleiben durfte – in seinem Zuhause – gab ihm Sicherheit. Und eine Zukunftsperspektive. Die KESB machte sich selbst ein Bild von der Situation. Nach Gesprächen mit Daniel, Thores Vater und Thore erteilten sie Daniel die Bewilligung zur Aufnahme von Thore als Pflegekind. «Dass Thore im ganzen Prozess miteinbezogen wurde und seine Wünsche äussern konnte, war für mich sehr wichtig», sagt Daniel. Der Vater von Thore wünschte sich einen regelmässigen Kontakt zu seinem Sohn.
Rechtliche Vertretung fehlte
Thore erhielt von der KESB eine Beiständin zugeteilt. Sie vertrat ihn hinsichtlich seiner finanziellen Ansprüche und Unterhaltszahlungen in Deutschland. Da sein Vater nach deutschem Recht kein Sorgerecht hatte und er dieses auch nicht erkämpfte, fehlte eine rechtliche Vertretung für Thore. In diesem Fall braucht es eine Vormundperson für das Kind. Die KESB folgte der Empfehlung der Beiständin, Daniel als Vormund einzusetzen. In der Praxis ist es eher selten, dass Pflegeeltern auch die Vormundschaft haben (siehe Kasten).
Wurzeln schlagen
Daniel, der Teilzeit arbeitet, hat viel Zeit für seinen Pflegesohn. Thore geht seit einigen Jahren in die Schule und hat einen netten Freundeskreis. Er komponiert digitale Musik, was ihm sehr viel bedeutet. Zurzeit überlegt er sich, eine Lehre im Bereich Sound-Engineering zu machen. «Es geht mir gut, trotz allem», sagt Thore. «Wir können jederzeit offen über meine Mama reden, auch vor und mit anderen Menschen». Das ist beiden sehr wichtig. Daniel spürt, dass Ruhe eingekehrt ist in Thores Leben: «Er konnte Wurzeln schlagen».
Thore und Daniel verstehen sich gut. Inzwischen ist Thore 16 Jahre alt. Er kocht oft selbst und ist überhaupt sehr selbstständig geworden. Seine Ferien verbringt er häufig bei seinen Grosseltern in Deutschland. Auch bei einem ehemaligen Freund von Susan, den Thore früher «Papa» nannte, ist Thore jederzeit willkommen. «Ich bin sehr dankbar, dass Thore in diesen Menschen eine weitere wertvolle Stütze findet», sagt Daniel. «Und sie sind glücklich, dass Thore bei mir ein Zuhause hat».
Finanzielle Unterstützung
Und wie sieht es mit der finanziellen Unterstützung aus? Daniel ist als Fachpflegevater anerkannt und wird mit rund 1500 Franken monatlich entschädigt. Thore erhält Alimente von seinem Vater, kleine Halbwaisenrenten aus Deutschland und aus der Schweiz sowie ergänzend rund 1000 Franken für Unterkunft, Verpflegung und Kleidung.
Im ersten Jahr nach Susans Tod war Daniel nicht als Fachpflegevater eingestuft. «Durch Zufall erfuhr ich, dass ich im Kanton Basel-Land durch Kurse den Status als Fachpflegevater erreichen kann», erzählt er. Der Unterschied macht rund 800 Franken aus. «Ich wäre froh gewesen, die KESB hätte mich von Anfang an darüber informiert».
Fachliche Begleitung
Daniel und Thore fühlen sich von der familea – Zentrum Pflegekinder gut betreut und begleitet. Mindestens zwei Mal pro Jahr besucht eine Familienbegleiterin der Organisation die beiden und ruft alle paar Wochen an. Damit will sie sicherstellen, dass es beiden wohl ist. Daniel ist verpflichtet, sich sechs Mal pro Jahr mit anderen Eltern in einer Pflegeelterngruppe zu treffen und eine Weiterbildung von familea zu besuchen. «Der Austausch mit anderen Pflegeeltern ist sehr bereichernd», sagt er. Auch mit der KESB ist Daniel in Kontakt und hatte auch schon Besuch von einem Vertreter im Rahmen der Pflegekinderaufsicht.
Kostbarkeiten
Daniel hat sich nach den bewegten Zeiten einen Traum erfüllt: Er entschlüsselte das Kryptogramm eines Piraten aus dem 18. Jahrhundert und ging damit im Indischen Ozean auf Schatzsuche. SRF DOK begleitete ihn («Der Schatz des Piraten – Dem Rätsel auf der Spur»). Ob Daniels Schatzsuche erfolgreich war, wird in diesem Artikel nicht verraten. In Daniel und Thores Zuhause findet sich aber etwas sehr Kostbares: ganz viel Menschlichkeit, Verbundenheit, Vertrauen, Mut, Loyalität und Empathie. Die Geschichte von Thore und Daniel zeigt, dass Familie nicht nur durch Blutsbande entsteht, sondern dort, wo Menschen füreinander da sind – mit offenen Herzen.
Von der Bezugsperson zur Pflegefamilie
Klassischerweise denkt man bei Pflegefamilien an fremde Betreuungspersonen, die durch Fachstellen vermittelt werden. Die Geschichte von Thore und Daniel zeigt, wie sich Pflegeverhältnisse auf der Grundlage von gewachsenen Beziehungen im sozialen Umfeld eines Kindes entwickeln können. Häufig sind dies verwandtschaftliche Pflegeverhältnisse. In der Schweiz finden rund 40 Prozent der Pflegeverhältnisse innerhalb der Verwandtschaft statt – zum Beispiel, wenn Grosseltern, Tanten oder Onkel die Betreuung eines Kindes übernehmen, weil die Eltern dazu nicht in der Lage sind.
Neben der Verwandtenpflege gibt es auch sozialräumliche Pflegeverhältnisse: Enge Bezugspersonen wie beispielsweise Stiefelternteile oder Lebenspartner:innen eines Elternteils, wie im Falle von Daniel können im Bedarfsfall zur Pflegefamilie werden. Sozialräumlich sind ausserfamiliäre Unterbringungen auch, wenn beispielsweise die Nachbarn, Eltern von Freunden des Kindes oder ein Gotti die Betreuung übernehmen. Alle Formen dieser Pflegeverhältnisse sind bewilligungspflichtig und unterstehen der Aufsicht gemäss Artikel 316 ZGB.
Sozialräumliche Pflegeverhältnisse können wie die Verwandtenpflege im Interesse der Kinder sein, weil sie ihnen in belastenden Lebenssituationen Stabilität, emotionale Nähe und Kontinuität innerhalb ihres vertrauten Umfelds bieten. Sie ermöglichen, dass wichtige Bindungen erhalten bleiben – ein entscheidender Faktor für das emotionale Wohl und die langfristige Entwicklung eines Kindes.
Diese Formen der Unterbringung machen deutlich, wie tragfähige Beziehungen innerhalb des erweiterten sozialen Netzwerks eines Kindes zur Ressource werden können. Sie zeigen, dass Familie nicht nur biologisch, sondern vor allem durch Beziehung, Verantwortung und Verlässlichkeit definiert wird. Es wird immer im Einzelfall geprüft, ob eine verwandte oder sozialräumliche Pflegefamilie sich eignet für das betroffene Kind. Auch bei einem Pflegeverhältnis innerhalb der Verwandtschaft oder innerhalb des sozialen Umfelds ist es empfehlenswert, einen schriftlichen Pflegevertrag abzuschliessen.
Grundsätzlich haben alle Pflegeeltern und somit auch Pflegeeltern, welche ein Kind aus dem verwandtschaftlichen oder sozialen Umfeld aufnehmen Anspruch auf ein angemessenes Pflegegeld (Art. 294 Abs. 1 ZGB). Bei Pflegeeltern innerhalb der Verwandtschaft besteht die gesetzliche Vermutung, dass die Betreuung unentgeltlich erfolgt (Art. 294 Abs. 2 ZGB). Diese sogenannte Vermutung der Unentgeltlichkeit bei Verwandten (Art. 294 Abs. 2 ZGB) fällt dahin, sobald die Pflegeeltern erklären, dass das Pflegeverhältnis nicht unentgeltlich sei und sie eine Entschädigung beanspruchen.
Pflegeelternteil als Beistands- oder Vormundperson?
Gemäss den Empfehlungen der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) zur Ernennung der geeigneten Beistandsperson vom 29. November 2024 (Wer passt zu wem?) werden bei Kindesschutzmandaten in der Regel keine privaten Beistandspersonen ernannt, weil entweder die speziellen fachlichen Kompetenzen fehlen, die Mandatsführung spezifische methodische Kenntnisse erfordert oder Interessenkollisionen eine Mandatsführung verunmöglichen (vgl. Seite 28). Diese Ausführungen gelten auch für die Vormundschaft im Kindesschutz. Dementsprechend ist die Konstellation wie im Artikel beschrieben, dass der Pflegevater gleichzeitig Vormund des Kindes ist, in der Praxis selten.
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