Erkenntnisse aus der JAEL-Studie für die Betreuung von Care Leaver:innen

17. 05. 2025 | Pflegefamilie, Fokus | 0 Kommentare

Für junge Menschen, die in stationären Einrichtungen oder Pflegefamilien aufgewachsen sind – sogenannte Care Leaver:innen – ist der Übergang in die Selbständigkeit und die Integration in die Gesellschaft besonders herausfordernd. Die JAEL-Studie zeigt Benachteiligungen und Probleme auf, die sich in ganz verschiedenen Lebensbereichen zeigen können und schlägt deshalb Handlungsmöglichkeiten vor.

von PD Dr. Marc Schmid, Psychologe, Leiter JAEL-Studie und JAEL-Team Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel / Universität Basel

Die meisten jungen Erwachsenen verlassen das Elternhaus heute erst mit Mitte 20 – mit Rückhalt durch Familie, mit abgeschlossen Ausbildung und oft noch mit finanzieller Unterstützung durch ihr Herkunftssystem. Ganz anders sieht das für Care Leaver:innen aus: Sie müssen meist deutlich früher auf eigenen Beinen stehen – ohne entsprechenden familiären Rückhalt und oft mit belastender Vorgeschichte. Die JAEL-Studie untersuchte rund 200 junge Erwachsene in dieser besonders bedeutsamen Lebensphase der Spätadoleszenz. In dieser Phase stehen besonders wichtige Entwicklungsaufgaben, wie die Ablösung vom Elternhaus, die Auseinandersetzung mit Werthaltungen, die Berufsfindung und die Gründung von festen Beziehungen an, die bewältigt werden müssen, um langfristig und nachhaltig eine ausreichende gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen (1).

Befragung mit 16 und 26 Jahren

Die Basis für die JAEL-Längsschnittstudie war der Modellversuch MAZ., in dem zwischen 2010 und 2013 592 Kinder und Jugendliche aus sozialpädagogischen Institutionen in der Schweiz untersucht wurden. Zehn Jahre später konnte ein grosser Teil dieser jungen Menschen – damals im Schnitt 16,6 Jahre alt – erneut befragt werden. Das ist angesichts ihrer oft prekären Lebenslagen, häufiger Umzüge und brüchiger sozialer Netzwerke ein beachtlicher Erfolg: 231 von 374 wiedergefundenen Personen nahmen an der neuen Erhebung teil. Über 200 füllten umfangreiche Onlinefragebögen aus, mit 180 wurden standardisierte klinische Interviews geführt (siehe Kasten für Details zur Studie). Die Lebenssituation der Teilnehmenden JAEL-Teilnehmerin wurden als soziale Teilhabe in vier Kategorien erfasst: Gesundheit, Delikte, sozioökonomische Lage und Beziehungen. Zum einen aufgrund von von «harten Fakten» erfasst, zum anderen über ein Expert:innenurteil. Mithilfe eines Ampelsystems wurden gute, neutrale oder schlechte Verläufe zugeordnet.

Wichtigste Ergebnisse

  • Einer von fünf jungen Erwachsenen weist in quasi allen Lebensbereichen massive Probleme auf und konnte keine stabile Lebenssituation aufbauen.
  • 60% leiden unter einer psychischen Erkrankung. 45% geben relevante gesundheitliche Einschränkungen im Alltag wegen somatischen oder v.a. psychischen Erkrankungen. Am häufigsten wurden substanzgebundene Störungen, Persönlichkeitsstörungen, affektive Störungen und ADHS diagnostiziert.
  • 55 Prozent der Teilnehmenden sind mit ihrer sozioökonomischen Lage unzufrieden und weisen in dieser Kategorie Probleme auf.
  • Rund ein Drittel (32%) ist nicht in Arbeit oder Ausbildung integriert.
  • 44% sind zumindest teilweise auf soziale Transferleistungen angewiesen.
  • 30% haben mehr als 10’000 CHF Schulden.
  • 32% der Befragten sind mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, zumeist wegen Verkehrs- und Eigentumsdelikten.
  • 6% haben Gewaltdelikte verübt, 10% wurden zu einer Haftstrafe verurteilt.
  • 60% Prozent leben in einer festen Partnerschaft.
  • 22% haben bereits eigene Kinder. Von diesen gab die Hälfte an, dass die Schwangerschaft des ersten Kindes ungeplant gewesen sei und sie das 21. Lebensjahr bei der Geburt noch nicht vollendet hatten. Über 65% leben mit ihren Kindern zusammen und 72% haben das Sorgerecht. Es leben aber «nur»10% der Kinder in ausserfamiliären Hilfeformen.

Mangelnde Unterstützung

Über ein Drittel der JAEL-Teilnehmenden fühlt sich im Transitionsprozess nicht ausreichend unterstützt. Die zentrale soziale Unterstützung kam bei den Teilnehmenden viel seltener von den biologischen Eltern und viel häufiger aus dem Freundeskreis. Weiterhin zeigte sich, dass die JAEL-Teilnehmenden wenig soziale Unterstützung durch ihre Familien bekommen und 46% Probleme in ihren Beziehungen beschreiben. Prosoziale Peerbeziehungen und stabile Liebesbeziehungen scheinen einen stabilisierenden Einfluss zu haben. Die professionelle Unterstützung im Transitionsprozess wird sehr heterogen beschrieben. Langsame Übergänge mit gewachsenen vertrauensvollen Beziehungen sowie eine passgenaue Unterstützung durch ambulante Hilfen scheinen aus Perspektive der betroffenen jungen Menschen besonders wertvoll für ihre gesellschaftliche Teilhabe zu sein.

Einordnung der Ergebnisse zur sozialen Teilhabe

Insgesamt haben 86% der JAEL-Teilnehmenden in mindestens einem Lebensbereich eine relevante Einschränkung, 55% in mehr als zwei Lebensbereichen und bei 20 Prozent sind alle Lebensbereiche schwer belastet. Die Tatsache, dass 10% eine Haftstrafe verbüssen, über die Hälfte Schwierigkeiten im sozioökonomischen Bereich haben und 60% die Diagnosekriterien für eine psychische Störung aufweisen, ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung extrem hoch.

Sehr grosse Probleme zeigen sich bei der Bildung und Arbeitsintegration. Dies zeigen auch andere deutschsprachige und internationale Studien (2). Vielen der ehemalig platzierten Jugendlichen fällt es – trotz guter Begabung – schwer, ein Studium aufzunehmen und abzuschliessen. Viele der Care Leaver:innen trauen sich diese Abschlüsse erst auf dem zweiten Bildungsweg zu und sind erst mit Mitte 20 in stabilen Lebensverhältnissen soweit, sich nochmals mit ihrer Bildungskarriere auseinanderzusetzten (3).

Risiko- und Schutzfaktoren

Gute Verläufe zeichnen sich durch einen besseren Schulerfolg in der Vorgeschichte, eine höhere Selbstwirksamkeit, mehr soziale Unterstützung durch Eltern und Gleichaltrige sowie eine geringere psychische Belastung oder stärkere Reduktion der psychischen Belastung im Verlauf der Jugendhilfemassnahme aus. Die Intelligenz der Jugendlichen spielte für die Verläufe keine wesentliche Rolle. Viel wichtiger war das subjektive Gefühl, Schwierigkeiten bewältigen zu können – also Selbstwirksamkeit. In den qualitativen Studien zeigte sich zudem, dass eine beziehungsorientiertere Pädagogik, positive Gruppenerfahrung und die Identität stark mit positiveren Verläufen einhergehen.

Belastende Kindheitserfahrungen

Eine Vielzahl sehr früher und sehr belastender Kindheitserfahrungen, Suchtmittelmissbrauch und Substanzabhängigkeit, mehrfache Abbrüche von Kinder- und Jugendhilfemassnahmen, psychische Belastungen und Erkrankungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen und psychopathische Persönlichkeitszüge, sowie persistierende Delinquenz gehen mit einem höheren Risiko für schlechtere Verläufe einher. Ein Grossteil der Care Leaver:innen machte bereits in ihrer frühen Kindheit schwere traumatische Erfahrungen, welche die Lebensqualität beeinträchtigen. Auch internationale Studien zeigen, dass Heimjugendliche besonders von Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen betroffen sind (4).

Fachpolitische Konsequenzen

Die JAEL-Ergebnisse zeigen klar: Care Leaver:innen brauchen mehr, frühere und gezieltere Unterstützung – vor allem im Übergang ins Erwachsenenleben. Dieser Prozess sollte nicht abrupt mit der Volljährigkeit enden, sondern sich familienähnlich und nachhaltig gestalten. Darum sollten Pflegeverhältnisse bis 25 Jahre verlängert werden können. Es ist wichtig, den «Übergang» aus einer ausserfamiliären Platzierung in ein selbständiges Leben als längeren Prozess zu verstehen, auf den gemeinsam partizipativ mit allen am Hilfeprozess beteiligten Personen hingearbeitet wird. Es sollte viel Wert auf den Aufbau von informellen sozialen Unterstützungssystemen, prosozialen Freizeitbeschäftigungen und Peergruppen gelegt werden. Auch die Verbindung zu Vertrauenspersonen sollte weiter gepflegt werden können. Die Beziehung zu den leiblichen Eltern sollte vor der Ablösungsphase gut geklärt sein, so dass in der Austrittsphase keine Loyalitätskonflikte aktualisiert, werden können.

Förderung, Stipendien und Integration

Im Bildungssystem muss man Care Leaver:innen mehr zutrauen. Oft wird zu früh auf Sicherheit gesetzt – ein schneller Abschluss gilt als Erfolg. Dabei bleibt viel Potenzial ungenutzt. Förderlich wären spezifische Stipendien, die man für Studium und berufliche Weiterqualifikation niederschwellig abrufen kann. Auch die Heimerziehung sollte darauf sensibilisiert werden, begabte Jugendliche zu höheren Bildungsabschlüssen zu ermutigen.

Eine Ausbildung ist nur eine notwendige aber keine hinreichende Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeitsintegration. Deshalb sollte man Unterstützung nicht nur auf einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss, sondern auch auf die Integration in den Arbeitsmarkt ausrichten. Vermutlich braucht es gezielte Anreize für Betriebe, wie etwa Steuervorteile oder Subventionen für das Schaffen von sozialpädagogisch und agogisch begleiteten Arbeitsplätzen.

Früherkennung

Das Risiko, unter psychischen Erkrankungen und komorbiden Störungen zu leiden, ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung bis viermal höher bei Care Leaver:innen (5). Die verheerende Wirkung von chronifizierten psychischen Erkrankungen und insbesondere substanzgebundenen Störungen zeigen die Wichtigkeit von Früherkennung und -Behandlung von psychischen Erkrankungen (6). Bereits während der Heimerziehung oder des Pflegeverhältnisses ist eine Behandlungskontinuität notwendig.

Es braucht ein sehr gut ausdifferenziertes interdisziplinäres Hilfssystem, in dem Care Leaver:innen in eigenen Wohnungen und gegebenenfalls auch aufsuchend psychiatrisch/psychotherapeutisch betreut werden können. Der niederschwellige Zugang zu psychosozialen und adoleszenzpsychiatrischen Hilfen ist wichtig. Es macht Sinn, auch im psychiatrischen, psychotherapeutischen Bereich spezifische Angebote für Adoleszente auf- und auszubauen. Mit spezifischen Behandlungskompetenzen und altersgerechten psychosozialen Netzwerken.

Vom Wissen zur Praxis: E-Learning für Fachpersonen

Die JAEL-Erkenntnisse blieben nicht in der Wissenschaft stecken: Wir haben ein E-Learning-Modul für Fachkräfte und Pflegeeltern entwickelt, das über jael-elearning.ch zugänglich ist. Damit sollen Helfer:innen im Alltag unterstützt, aber auch ermutigt werden, weiter an Gelingensfaktoren anzuknüpfen. Das Tool wurde im Rahmen der JAEL-Studie erprobt mit rund je 130 Absolvent;innen in Kontroll- und Interventionsgruppe . 98% der Absolvent:innen würden es weiterempfehlen. Im Vergleich zur Wartekontrollgruppe berichteten fühlten sich sie sich dank dem JAEL E-Learning fachlich sicherer, pädagogisch wirksamer und zufriedener in ihrer Arbeit. Der Effekt blieb auch nach sechs Monaten stabil.

Fazit

Viele junge Erwachsene mit ausserfamiliärer Vorgeschichte zeigen beeindruckende Resilienz, insbesondere wenn sie ein positives, ressourcenorientiertes Narrativ über ihre Fremdplatzierung entwickelt haben. Sie haben wertvolle Beziehungserfahrungen gemacht, emotionale Unterstützung erhalten und dadurch Selbstwirksamkeit sowie eine akzeptierende Identität gewonnen. Dennoch bleiben Care Leaver:innen aufgrund ihrer akkumulierten Risikofaktoren eine Hochrisikogruppe. Die Übergänge aus der ausserfamiliären Betreuung in die Selbständigkeit müssen von einem Netzwerk gut begleitet werden – mit niederschwelligem Zugang zu Hilfe.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für das Care Leaving sollten harmonisiert werden und in allen Kantonen in gleicher Art und Weise umgesetzt werden. Heute ist es so, dass ein Kantonswechsel oft dazu führt, dass ein junger Mensch seine Unterstützung verliert. Denn Kantone haben unterschiedliche Regelungen betreffend Unterstützung nach der Volljährigkeit und der Beendigung der Fremdplatzierung. Meta-Studien zeigen die Wirksamkeit von Anlaufstellen mit einem interdisziplinären Netzwerk. Eine professionelle Begleitung, die niederschwellig, präventiv aber auch nachgehend arbeitet, kann die soziale Teilhabe und Integration von gefährdeten Care Leaver:innen verbessern.

Pflegeverhältnisse sollten in allen Kantonen bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres verlängert und langsam «ausgeschlichen» werden können. Die Ablöseprozesse sollten viel ähnlicher wie in den Familien gestaltet werden und die Pflegeeltern sollten möglichst Vertrauenspersonen bleiben. Vertrauensperson und auch organisierte Unterstützung durch Peers und Care Leaver:innen-Netzwerke können hier auch einen wichtigen Beitrag leisten. Viele ehemalige Heim- und Pflegekinder haben kein «zu Hause», das sie anrufen können, wenn die Waschmaschine den Geist aufgibt, sie an ihrer Berufswahl zweifeln oder die Beziehung zerbricht – das ist einfach nicht gerecht!

Bild: KI-generiert

Details zur Studie

Quellen- und Literaturverzeichnis

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