«Durchhaltevermögen und das Herz am richtigen Ort»

23. 04. 2025 | Pflegefamilie | 0 Kommentare

Sandra Bengel* erzählt vom Leben als Entlastungsfamilie an Wochenenden und in den Ferien. Seit 20 Jahren unterstützt Familie Bengel auf diese Weise Kinder in belastenden Familiensituationen.

von Natalie Ehrenzweig

Die Familie besteht aus ihr, ihrem Mann und ihren drei Töchtern, die zwischen 14 und 21 Jahre alt sind.

Sandra Bengel, seit wann ist Ihre Familie eine Entlastungsfamilie (EF) – und was hat Sie dazu bewegt?

Sandra Bengel: Seit 2002 arbeiten wir mit dem Schweizer Kinderhilfswerk Kovive zusammen. In dieser Zeit hat sich viel verändert. Wir hatten damals noch keine eigenen Kinder und wir wollten immer schon benachteiligten Menschen zur Seite stehen und unsere Ressourcen teilen. Zuerst waren wir eine sogenannte Gastfamilie.

Gastfamilie – was bedeutet das?

Wir hatten schon ein grosses Haus mit Garten und wollten uns sozial engagieren. In einem Zeitungsartikel wurden Gastfamilien gesucht. So bewarben wir uns als Gastgeber bei einer Stiftung, die Kinder aus Tschernobyl zur Erholung für ein paar Wochen in die Schweiz holten. Doch das hat nicht geklappt. Auch Kovive suchte laut dem Artikel Gasteltern für Ferienaufenthalte für Kinder aus dem Ausland, so kamen wir dazu Gastfamilie zu werden. Später wurden wir angefragt, auch Entlastungsfamilie zu sein.

Für wie viele Kinder waren Sie schon als Familie da?

Insgesamt hatten wir bisher drei Settings. Für zwei Kinder waren wir Gastfamilie, für die jetztigen sind wir Entlastungsfamilie seit 2021.

Woher kommt Ihre Kraft für diese Aufgabe?

Ich kann es nicht genau sagen, ich hatte schon immer so einen inneren Antrieb. Seit ich denken kann, setze ich mich für Menschen am Rand der Gesellschaft ein, habe zum Beispiel Freiwilligenarbeit in der Notschlafstelle geleistet. Oder zur Zeit der vielen Flüchtenden aus Eritrea haben wir zwei unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) aufgenommen. Dabei haben wir immer viel gelernt. Klar, manchmal ist es streng, aber wir entwickeln uns auch in so einer Situation, das gibt eine Wechselwirkung.

Auch als Entlastungsfamilie werden Sie für jedes Kind wieder neu abgeklärt, oder?

Genau. Vor drei Jahren wurden wir für das Geschwisterpaar abgeklärt, das wir aufgenommen haben. Das hat sich in all den Jahren sehr verändert, die Abklärungen und der Passungsprozess sind professioneller geworden. Heute gibt es Interviews, Fragebögen, wir geben unseren Lebenslauf an, schreiben einen Motivationsbrief, es gibt Hausbesuche und Gespräche mit der ganzen Familie. Nach dem mehrstufigen Verfahren bei Kovive kommt noch der Prozess bei den zuständigen Behörden für die Pflegeplatzbewilligung hinzu.

Nun sind Sie Entlastungsfamilie für ein zwölfjähriges und ein vierzehnjähriges Kind. Wie oft und weshalb sind die Kinder bei Ihnen?

Im ersten Jahr waren sie oft hier, das nahm aber stetig ab. Während die Mutter nicht in der Lage war, sich um die Kinder zu kümmern, war der Vater – die Eltern sind getrennt – mit der Kinderbetreuung überfordert. Die Zusammenarbeit mit dem Kindsvater ist hervorragend.

Wie läuft diese Zusammenarbeit ab?

Wir machen einen halbjährlichen Betreuungsplan. Die Kinder kommen jedoch heute je nach Bedarf, zu Beginn waren sie aber mindestens jedes zweite Wochenende bei uns und während einem grossen Teil der Schulferien. Die Situation mit den Kindern ist zu Hause immer wieder fast eskaliert, so dass wir den Vater dabei unterstützt haben, dass er mehr entlastet wird. Er holt sich auch oft Rat bei uns, wenn die Kinder bei ihm sind.

Wie äussert sich die Überforderung des Vaters?

Ihm fehlt die Zeit, aber auch gewisse Erziehungskompetenzen, gerade jetzt, wenn die Kinder in der Pubertät sind. Das ist ja eine Zeit, in der auch andere Eltern sich manchmal Hilfe suchen.

Was brauchen die Kinder, was können Sie ihnen als Entlastungsfamilie bieten?

Diese Kinder sind sehr vorbelastet von ihrem Daheim und bringen einen Rucksack voller – nicht nur positiver – Erfahrungen mit. Sie benötigen Strukturen im Alltag, einen Rhythmus, Stabilität und Rituale. Ausserdem lernen sie bei uns ein gesundes Familiensystem kennen. Wir stärken ihre Ressourcen und wertschätzen sie. Ja, sie bekommen von uns fünf richtiggehende Wertschätzungsduschen. Wir fördern ihre Sozialkompetenz, ihr psychisches Wohlbefinden und einen gesunden Lebenswandel. Dazu fehlen dem Vater oft die Ressourcen.

Wie bereiten Sie sich auf ein Kind vor?

Es gibt natürlich ein Kennenlerntreffen mit allen Beteiligten, zusammen mit der Beiständin und Kovive. Ausserdem holen wir uns in Weiterbildungen Wissen und Kompetenzen für unterschiedliche Handlungsoptionen. Denn eine gesunde Kernfamilie ist zwar eine Voraussetzung, genügt aber allein, nicht. Im gesamten Vorbereitungsprozess werden wir durch die fallführende Person von Kovive begleitet, unterstützt und beraten. Auch darüber hinaus.

Sie haben erwähnt, dass die Zeit, die die Kinder bei Ihnen verbringen, stetig abnimmt. Woran liegt das?

Das Ziel jedes Settings ist, dass das Herkunftssystem entlastet oder unterstützt werden kann, bis die Erziehungs- und Betreuungsaufgaben teilweise oder ganz übernommen werden können. Dieser Prozess läuft aktuell.

Gleichzeitig werden die Kinder älter, selbständiger. Sie wollen vermehrt selber über ihre Zeit verfügen. Es geht ums Kindeswohl, alle ziehen am gleichen Strick. Und wenn ich mir manchmal Sorgen mache, wenn die Situation nicht so optimal ist, bin ich froh, dass die Kinder nicht mehr ganz klein sind und sich auch wehren können.

Wie gestalten Sie die Übergangsphasen – wenn die Kinder kommen und wenn sie wieder gehen?

Die Übergangsphasen verlaufen harmonisch. Wir sind uns vertraut. Das gemeinsame Abendessen am Familientisch ist der Start ins Wochenende. Den Kindern fällt es aber schwer, über ihr Innenleben zu reden. Ihnen fehlen da die Worte. Ich wollte das mal testen. Ich lege ihnen immer ein Willkommenskärtli mit einer Schoggi aufs Kopfkissen, wenn sie kommen. Ich bekam nie eine Rückmeldung. Dann liess ich die Karte und die Süssigkeit einmal weg: Schon kam die Reklamation (schmunzelt).

Gab es Situationen, in denen Sie gezweifelt haben?

Als lösungsorientierter Mensch passiert mir das selten. Die anhaltende Konfliktsituation der Geschwister, fordert uns immer wieder heraus. Wir haben schon vieles probiert und versuchen, den Eskalationen mit Ruhe und Gelassenheit zu begegnen. Das wichtigste Kredo ist: Es gibt keine Verlierer. Da holen wir uns nun Hilfe von Profis. Klar, manchmal ist es anstrengend. Aber es gibt dann ja auch die Zeit, in der sie bei den Eltern sind und sich ein natürlicher Abstand ergibt.

Und welche Momente geben Ihnen Zuversicht?

Es sind feine Highlights. Grad kürzlich waren wir im Kino. Als wir nach Hause kamen, ist es zwischen den Geschwistern aus für mich unerfindlichen Gründen eskaliert. Ich habe die Situation beruhigt und sagte ihnen, dass wir noch über diesen Streit reden müssen. Ob sie das heute oder morgen machen wollen. Und beide fanden sofort, sie wollen das gleich klären. Da war ich wirklich perplex und habe mich gefreut. Sie haben die Erfahrung gewonnen, dass sie sich besser fühlen, wenn sie darüber reden, dass es gut kommt. Oder manchmal vergessen sich die beiden beim Spielen, obwohl sie nicht gelernt haben, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Dann sind sie plötzlich unbefangen und kindlich. Ich glaube, das ist sehr heilsam.

Wie hat es Sie und Ihre Familie verändert, Entlastungsfamilie zu sein?

In unseren Grundstrukturen hat es uns nicht verändert. Aber ich glaube, wir bewerten Situationen heute anders, können uns mehr in andere hineindenken und verstehen verschiedene Standpunkte. Ausserdem ist das Verständnis für die Notlage anderer Menschen gewachsen.

Welche Art von Unterstützung erhalten Sie?

Einerseits stützt uns unser Umfeld. Die Familie meiner Schwester ist zum Beispiel auch eine Entlastungspflegefamilie. Wir werden auch sehr gut von Kovive begleitet, haben regelmässigen Austausch. Ich fühle mich sehr wertgeschätzt und gehört. So habe ich zum Beispiel der fallführenden Person geschildert, dass ich beobachtet habe, wie eines der Kinder emotional auf eine ausgebüxte Maus reagiert hat. Nun darf es auf einem Reiterhof eine tiergestützte Therapie machen. Finanziell erhalten wir eine Entschädigung, die sich pro Tag und Kind berechnet und die Unterkunft, Verpflegung und Lohn beinhaltet.

Was muss man mitbringen, um sich als Entlastungsfamilie zu eignen?

Man braucht Durchhaltevermögen, eine stabile Lebenssituation und man muss das Herz am richtigen Fleck haben. Es hilft, wenn man versiert in Erziehungsmethoden ist, eine Bereitschaft zur Reflexion mitbringt und verlässlich, verfügbar und vertraut ist. Sonst finde ich, sollen sich alle melden, die Interesse haben, egal ob Grosseltern, kinderlose Paare oder auch Einzelpersonen. Kovive macht dann ja die Passung. Und man sollte sich vor Augen halten, dass eine solche Person genügt, damit ein Kind Resilienz entwickeln kann.

*Name von der Redaktion geändert

Das oben beschriebene Gastfamilienangebot für Kinder aus dem Ausland existiert in dieser Form bei Kovive nicht mehr. HIER finden Sie Informationen zum aktuellen Angebot.

Nachgefragt bei Barbara Furrer, Fachmitarbeiterin PACH

Entlastungsfamilien gesucht

Ist klar definiert, was eine Entlastungsfamilie ist?

Nein. Es ist kein rechtlich festgelegter Begriff. Fachpersonen verwenden unterschiedliche Begriffe, wie beispielsweise «Kontaktfamilie» oder «Gastfamilie». Ab welchem Betreuungsumfang eine Entlastungsfamilie bewilligungspflichtig wird – so wie das bei Pflegefamilien der Fall ist – wird auf nationaler Ebene ebenfalls nicht geregelt, vereinzelt aber von Kantonen. 

Wie unterstützen Entlastungsfamilien?

Entlastungsfamilien begleiten und betreuen Kinder oder Jugendliche an Wochenenden und in den Ferien. Dies geschieht in regelmässigen Abständen und betrifft meist ein oder zwei Wochenenden pro Monat und einige Wochen Ferien jährlich. Häufig sind es Kinder, die sonst in einer Institution oder einer anderen Pflegefamilie leben. Die Bereitschaft, sich auf eine längerfristige Begleitung einzulassen, ist oft Voraussetzung. 

Wo kann sich eine Familie melden, die sich als Entlastungsfamilie engagieren möchte?

Es gibt in jedem Kanton Vermittlungsstellen (Dienstleistungsanbietende in den Familienpflege, DAF). Manchmal suchen auch Institutionen direkt Entlastungsfamilien. Wir empfehlen Ihnen, im Internet nach «DAF» in Ihrer Wohnregion zu suchen und bei diesen anzufragen, ob Sie Plätze in Entlastungsfamilien vermitteln. 

Pflegefamilien gibt es viel zu wenig. Braucht es auch mehr Entlastungsfamilien?

Ja, es gibt zu wenige, auch Entlastungspflegefamilien. Statistiken gibt es dazu keine. Wir nehmen in der Praxis wahr, dass Fachpersonen vermehrt darum bemüht sind, individuelle und bedürfnisgerechte Unterstützungen zu bieten. Da können Entlastungspflegefamilien eine gute Lösung sein. Deshalb braucht es auch mehr Entlastungspflegefamilien. Die Gründe für eine nötige Entlastung können sehr unterschiedlich sein.

Zum Beispiel?

Eine alleinerziehende Mutter kann zwar gut genug zu ihrem Kind schauen, braucht aber regelmässig Entlastung, um psychisch stabil zu bleiben: Man sucht eine Familie, die das Kind zum Beispiel zwei Tage die Woche und jedes zweite Wochenende betreut. Für ein solches Arrangement braucht es eine Familie, die im gleichen Ort oder in der Nähe der Mutter lebt, damit das Kind weiterhin selbstständig den Alltag bewältigen kann.

Demnach ist es nicht so einfach, Familien zu motivieren, Entlastungsfamilien zu sein?

Personen, die sich in der Entlastungspflege engagieren, finden es bereichernd, ein Kind während längerer Zeit zu begleiten. Sie öffnen ihre Familie für ein Kind, ohne dass das Kind vollständig bei Ihnen lebt. Das kann eine gute Alternative gegenüber einem dauerhaften Pflegeverhältnis sein. Denn für manche Familie kommt es aus Ressourcen- oder Platzgründen nicht in Frage, Dauerpflegefamilie zu sein.

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