Dringend gesucht: Pflegefamilien

15. 11. 2024 | Pflegefamilie, Politik | 0 Kommentare

In der Schweiz gibt es in den meisten Kantonen einen alarmierenden Mangel an Pflegefamilien. Die Gründe dafür sind vielfältig. Genauso vielfältig sind die Massnahmen verschiedener Akteure, um dem Pflegefamilienmangel entgegenzuwirken.

von Andrea Huber

Als ihr Sohn vier Jahre alt war, kam für Familie Amrhein* der richtige Moment, um sich für die Aufnahme eines Pflegekindes anzubieten. Zu ihrem Kinderwunsch gehörte schon früh nicht nur ein eigenes Kind, sondern auch, einem anderen Kind ein Zuhause geben zu können. Sie staunten, als man ihnen bei der Vermittlungsstelle sagte, es kämen nur Pflegeeltern in Frage, welche die Betreuung vollumfänglich selbst abdecken können, ohne Betreuungstag in der Kita. Damit war das «Projekt Pflegekind» für die Familie zu Ende, bevor es gestartet war.

Konservative Familienbilder

Daniela Reimer, Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) leitete ein Forschungsprojekt, das die Rollenbilder in Pflegefamilien untersuchte (siehe Kasten). Es bestätigte sich die Vermutung, dass viele Fachpersonen ein traditionelles Idealbild von einer guten Pflegefamilien haben: Schweizerisch, christlich, ländlich – die Mutter überwiegend zuhause und der Vater erwerbstätig. «Dieses Bild ist auch in Medienberichten sehr präsent und prägt so die Vorstellung in der Gesellschaft, was eine Pflegefamilie ist», so Reimer. Gerade Erwartungen an Pflegemütter seien in vielen Fällen hoch. Wer nicht in dieses traditionelles Familienmodell passe, fühle sich kaum angesprochen von Aufrufen nach mehr Pflegefamilien. Darum brauche es in der Pflegekinderhilfe ein Umdenken. Und: «Ein Pflegekind aufzunehmen, ist ein soziales Engagement, das als solches stärker wertgeschätzt werden sollte», sagt Daniela Reimer.

Schneeballeffekt dank positiver Erfahrungen

Die Professorin forscht intensiv zu Pflegefamilien: «Wir stellen fest, dass es im Umfeld von Pflegefamilien, die gute Erfahrungen machen, öfters weitere Familien gibt, die ein Pflegekind bei sich aufnehmen». Werden also Pflegefamilien gut begleitet und die Rahmenbedingungen stimmen, stehen die Vorzeichen gut für das Gewinnen weiterer Pflegefamilien. Doch die Rahmenbedingungen sind oft schwierig. Eine gute Begleitung bedeutet, dass alle am Pflegeverhältnis Beteiligten Ansprechpersonen haben. Dazu gehören die Kinder und Eltern der Pflege- und Herkunftsfamilie. Daniela Reimer betont, wie wichtig es sei, den Bedürfnissen aller zu begegnen und Konflikte über divergierende Ansprüche zu bearbeiten. Für Pflegeeltern seien auch entsprechend ausgerichtete Veranstaltungen wichtig: «Pflegeltern sollten immer wieder die Möglichkeit haben, die eigene Rolle und Situationen zu reflektieren», so Reimer.

Die Schweizerische Fachstelle Pflegefamilie SFP setzt mit mehreren Projekten auf die bessere Unterstützung von Pflegefamilien. So wurde im Kanton Graubünden von 2019 bis 2023 ein Pilotprojekt mit kostenlosen Angeboten wie Pflegeeltern- und Pflegefamilientreffen, Beratung und Weiterbildung durchgeführt. Gemäss Projektleiter Olaf Stähli wurden die Angebote rege genutzt. «Die Angebote werden getragen vom Kanton, einer Stiftung und einer Gruppe Pflegeeltern weitergeführt und auch in anderen Kantonen umgesetzt». Das 2019 eröffnete Beratungstelefon findet ebenfalls Anklang, so Stähli: «Gut 15 Anrufe aus der ganzen Schweiz werden monatlich entgegengenommen».

Passende Vergütung

Die Vergütungen liegen je nach Kanton in der Spannbreite von 1500 bis 2700 Franken für Betreuung, Essen und Unterkunft. Hinzu kommen Nebenkosten, etwa für Kleider oder Freizeitaktivitäten. Braucht es höhere Beträge, damit Pflegefamilien gefunden werden? Daniela Reimer differenziert: «Eine holländische Studie zeigt, dass mehr Geld kurzfristig zwar mehr Familien generiert, aber nicht dauerhaft hilft, die Motivation aufrecht zu erhalten». Der Geldfaktor allein könne die Motivation für ein Pflegeengagement nicht steigern. Jedoch sollte die Höhe der Entschädigung immer wieder überprüft werden und für die Pflegeeltern fair sein, ist die Expertin überzeugt.

Pionierkampagne in der Westschweiz

Ein besseres Entschädigungssystem ist eine weit verbreitete Forderung. Der Kanton Waadt etwa hat auf eine Pauschale umgestellt. In der Vergangenheit mussten Familien alle Ausgaben mit Quittungen belegen, was einen grossen Aufwand bedeutete. Überhaupt gibt es viel Pioniergeist in der Westschweiz. Die Kantone Genf, Neuenburg, Wallis und Waadt haben 2022 die Kampagne «Pflegefamilien werden» (devenir-famille-accueil.ch) lanciert. Mit einer online-Plattform, Werbung und Medienpräsenz werden potenzielle Pflegeeltern angesprochen. Die Kampagne macht sichtbar, was Pflegefamilien sind und wie bereichernd die Aufnahme eines Pflegekindes sein kann. Familien können sogar einen Eignungstest machen. Die verstaubten Familienbilder mussten abgestreift werden. Die Plattform beschreibt Pflegefamilien so: «Sie haben einen heterogenen Hintergrund (Kultur, Religion, Geschlechtsidentität usw.). Sie können ledig, verheiratet, Hausbesitzer oder Mieter sein. Was wirklich zählt, ist Ihre Fähigkeit, sich um ein Kind zu kümmern und es in seiner Entwicklung zu begleiten».

Manon Schick, Generaldirektorin des Jugendamtes des Kanton Waadt, wertet die Kampagne als Erfolg: «Wir konnten im Kanton Waadt 30 anstatt der üblichen zehn Familien pro Jahr dazu gewinnen». Sie betont die Wichtigkeit der breiten Medienberichterstattung. Diese entfalte mehr Sichtbarkeit als zum Beispiel Buswerbung, wie dies in Genf versucht wurde. In einer Stadt wie Genf mit hohen Wohnungsmieten sei es generell schwierig, Pflegefamilien zu gewinnen, so Schick. Wenige Familien hätten ein Zimmer frei. Auch die Entschädigungen für Pflegefamilien spielten eine Rolle: In den Kantonen Wallis und Waadt seien die Beträge erhöht worden.

Ein Modell für andere Kantone?

In der Deutschschweiz liegt die Verantwortung eher in der Zivilgesellschaft. Die sogenannten DAFs (Dienstleistungsanbietende in der Familienpflege) sind in vielen Kantonen als private Dienstleister für die Rekrutierung und Vermittlung von Pflegefamilien zuständig. Zwischen den verschiedenen Vermittlungsstellen besteht kein regelmässiger Austausch. Jeder Anbieter versucht auf seine Weise, mehr Pflegefamilien zu gewinnen. Eine Alternative könnte ein koordiniertes Vorgehen sein: Ein gemeinsames Konzept und Kampagnenmaterial, das von allen individualisiert verwendet werden kann.

Kanton Zürich schafft eigenen Vermittlungspool

Im Kanton Zürich ist das Pflegekindwesen seit 2022 bei der Bildungsdirektion des Amt für Jugend und Berufsberatung angesiedelt. Diese Umstrukturierung geschah aufgrund einer Gesetzesrevision. Diese war auch mit dem Auftrag verbunden, einen kantonalen Pool an Pflegefamilien aufzubauen, ergänzend zu den bestehenden DAFs. Das Amt für Jugend und Berufsberatung schuf die Kampagnenwebsite pflegefamilien.zh.ch – zum Teil angelehnt an die Inhalte der oben erwähnten Westschweizer Kampagne. Die Botschaft: Wir suchen Pflegefamilien. «Es ist wichtig, dass sich die breite Bevölkerung mehr unter Pflegefamilie und den damit einhergehenden Veränderungen vorstellen kann», betont Marco Suter, Leiter der Abteilung Pflegefamilien. So wüssten zum Beispiel die meisten Leute nicht, dass es ganz unterschiedliche Formen von Pflegeverhältnissen gebe. Die Kampagnenwebsite gibt einen Überblick und beantwortet wichtige Fragen.

Mit verschiedenen Kommunikationsmassnahmen wird versucht, interessierte Leute zur Teilnahme an einer Informationsveranstaltung zu gewinnen. Diese Online-Events finden regelmässig statt. «Wir haben mehr Leute an diesen Veranstaltungen, seit wir online-Adds schalten», so Marco Suter. Es sei aber ein langer Weg vom ersten Interesse zur tatsächlichen Aufnahme in den kantonalen Pool. Darum sei der Erfolg der Kampagne erst bedingt messbar. Er ist aber überzeugt, dass der Kanton Zürich auf dem richtigen Weg sei: «Der Mangel an Pflegefamilien ist so gross, dass der Kanton in der Pflicht stehe, aktiv zu werden».

Verwandtenpflege ausbauen

Forscherin Daniela Reimer sieht im Ausbau der Verwandtenpflege ein grosses und noch wenig genutztes Potential. So wird die Unterbringung genannt, wenn eine Familie das Kind von Verwandten aufnimmt, weil dessen Eltern sich nicht um ihr Kind kümmern können. «Diese Familien sollten angemessen begleitet werden», ist Reimer überzeugt: «Es sollte in allen Kantonen selbstverständlich sein, dass Verwandte in derselben Höhe wie andere Pflegefamilien entschädigt werden», so Reimer. Das Potential sei gross. In europäischen Regionen, die Verwandtenpflege bewusst fördern, seien bis zu 70 Prozent aller ausserfamiliär platzierten Kinder bei Verwandten untergebracht.

Wie weiter?

In vielen Kantonen und bei DAFs wird darüber nachgedacht, wie mehr Pflegefamilien rekrutiert werden können. Braucht es neue Gefässe, um gemeinsam Strategien zu entwickeln, Synergien zu nutzen und einen Erfahrungstausch zu ermöglichen? Welche bestehenden Formate könnten dafür genutzt werden? Sollten sich die Kantone mehr Verantwortung übernehmen oder braucht es sogar Massnahmen auf nationaler Ebene? PACH möchte den Dialog mit Ihnen anregen und in einem nächsten Artikel die gesammelten Vorschläge zusammenfassen.

Wir freuen uns über Ihr E-Mail mit Ihren Vorschlägen auf: redaktion@netz-magazin.ch

*Name geändert

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«Bilder der Pflegefamilien und ihre Wirkung auf Kooperationsprozesse in der Pflegekinderhilfe»

Prof. Dr. Daniela Reimer leitete das Nationale Forschungsprojekt. PACH Pflege- und Adoptivkinder Schweiz war Projektpartnerin.
Für die Anwerbung und Vorbereitung von Pflegefamilien sowie für den Begleitprozess ist die Frage von grosser Bedeutung, was sich Fachkräfte, die Gesellschaft oder auch Familien selbst unter einer Pflegefamilien vorstellen. Diese Studie untersuchte Selbst- und Fremdbilder von Pflegefamilien in der Pflegekinderhilfe und der Gesellschaft und die Herausforderungen, die sich daraus ergeben. Die Ergebnisse zeigen sehr traditionelle Rollenbilder.
Es entstanden diverse Publikationen, zuletzt «Die ‘eierlegende Wollmilchsau’ – Pflegemütter als Sorgende».

Mehr Publikationen und Informationen finden sich hier

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Not macht kreativ

Der Pflegekinderdienst im deutschen Landkreis Mühledort am Inn suchte im Frühling 2024 verzweifelt Familien für sechs Kinder. «Wir waren drauf und dran, die Kinder vorübergehend auf das Team zu verteilen», erinnert sich Eva Obermaier, die Teamleiterin des Pflegekinderdienstes. Sie entschieden sich für einen Aufruf via soziale Medien. Der Aufruf ging in ganz Deutschland und sogar über die Landesgrenzen hinweg viral. 2000 bis 3000 Menschen riefen an. Die Telefonleistungen waren massiv überlastet: «Wir mussten ein Callcenter einrichten und eine Projektorganisation aufbauen», erzählt Eva Obermaier. «Das Interesse war so gross, weil wir nicht generell fragten, sondern ganz konkret Familien für Kinder suchten». In Vorgesprächen hätten die Erwartungen und bestehende Vorstellungen geklärt, was eine Pflegefamilie sei. «Viele hatten falsche Vorstellungen und kamen nicht in Frage».

Schliesslich konnten aber 24 Eltern zu einer Informationsveranstaltung eingeladen werden. Für die sechs Kinder wurden Pflegeplätze gefunden und der Pflegeeltern-Pool wuchs. Eva Obermaier teilte diese Geschichte im Rahmen des Treffens «Akquise in der Krise» mit Fachleuten aus ganz Deutschland. Eine andere Teilnehmerin erzählte, wie in Solingen alle Kindererzieherinnen in Kitas angeschrieben und gefragt wurden, ob sie für 24-Stunden-Notdienst (oder übers Wochenende) zu Verfügung stehen würden. In dieser Zeit sollten sie frei bekommen am Arbeitsplatz. Der an Fachleute mit passenden Qualifikationen gerichtete Aufruf war erfolgreich. Es wurde eine angepasste Schulung konzipiert und das Projekt realisiert.

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