Um die ausserfamiliäre Unterbringung von Kindern Anfang des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, hat die freischaffende Historikerin Frauke Sassnick Spohn die Geschichte von Armenpflege, Schule und Pflegekinderwesen in Winterthur 1900 bis 1939 aufgearbeitet. Dabei hat sie sowohl Entwicklung als auch Kontinuität entdeckt.
Frauke Sassnick Spohn, Sie haben die Geschichte des Pflegekinderwesens in Winterthur zu Beginn des letzten Jahrhunderts erforscht. War Winterthur ein Spezialfall?
Nein, ich gehe davon aus, dass Winterthur ein recht «normaler» Fall war. Auf der Ebene der Gesetzgebung war der Kanton Zürich gesamtschweizerisch oft Vorreiter, was die Sozialpolitik betrifft.
Der Titel des Buches lautet «Im Kampf gegen die Feinde des Kindeswohls». Seit wann kümmert man sich denn in der Schweiz überhaupt um das Kindeswohl? Und wie wird es definiert?
Bereits um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert kannte man den Begriff aus der Jugendfürsorge, allerdings schon damals ohne eindeutige Definition. Im Gegensatz zu heute, wo im Kindesschutz das Kind im Zentrum steht, ging es damals nicht in erster Linie um den Schutz des Kindes, sondern um den Schutz von Gesellschaft und Ordnung.
Wie hat sich die Definition des Kindeswohls im Laufe der Zeit verändert?
Im Untersuchungszeitraum wurde das Kind als (Rechts-)Objekt wahrgenommen. Eltern sollten dafür sorgen, dass es der Norm entspricht. Das Kind hatte immerhin einen Anspruch auf Erziehung, die aber von den Eltern, wie auch vom Staat bestimmt wurde. Spätestens seit die Schweiz 1997 die Kinderrechtskonvention der UN (Vereinten Nationen) ratifiziert hat, gab es diesen Paradigmenwechsel hin zum Kind als Rechtssubjekt, das zu seinen Interessen anzuhören ist.
Wie wurde das Ideal der «guten Familie» zu Beginn des 20. Jahrhunderts definiert – und wer entschied, was als «kindeswohlgefährdend» galt?
Die Familiennorm war im bürgerlichen Familienideal beschrieben, allerdings war sie für viele Familien und gerade für Armutsbetroffene gar nicht umsetzbar. Gemäss Norm hatte der Vater als Vollernährer den Lohn heimzubringen. Die Mutter war für Haushalt und Kinder zuständig und damit in hoher Verantwortung für das Funktionieren der Familie. Gleichzeitig sahen sich Mütter mit Schuldzuweisungen konfrontiert, wenn die Behörden «Verwahrlosung» und damit Kindeswohlgefährdung feststellten.

Wer entschied damals, was als «kindeswohlgefährdend» galt?
Eine wichtige Rolle spielten Armenpflege und Schule, die beide ihren behördlichen Blick in arme Familien richteten. Je länger diese öffentliche Unterstützung beanspruchten, desto genauer schauten die Behörden hin. Weil armutsbetroffene Eltern von vornherein als wenig erziehungskompetent galten, wurden zahlreiche arme Kinder behördlich fremdplatziert und es kam Zwang zur Anwendung.
Im Untertitel beziehen Sie auch die Schule mit ein. Welche Rolle spielte die Schule in Bezug auf die Pflegekinder?
Die Schule hatte, wie auch die Armenpflege, einen weitreichenden Erziehungsauftrag, der besonders Kinder aus armen Familien adressierte. Als zentrale Akteurin der Jugendfürsorge hat die Schule viele fortschrittliche sozialpolitische Impulse gegeben. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die Schule umfassende Massnahmen der Schulkinderfürsorge, Schulhygiene und Schulgesundheitspflege auf den Weg gebracht, finanziert und umgesetzt. Auch nicht zu vergessen: Die schulischen Einrichtungen zur Kinderbetreuung. Die beachtlichen Leistungen der Volksschule für sozial benachteiligte Kinder sind gut erforscht.
Worauf legen Sie in Ihrem Buch den Fokus?
Ich zeige die bislang wenig beleuchteten Verknüpfungen von Erziehungs- und Fürsorgeauftrag auf. Der Blick richtet sich auf jene Momente, wo am Angelpunkt «Verwahrlosung» schulische Massnahmen ansetzen. Via Fürsorge soll erzieherisch auf arme Schulkinder eingewirkt werden. Die Lehrpersonen waren neben dem Unterrichten auch ausserhalb des Klassenzimmers mit einem weitreichenden sozialpädagogischen Auftrag unterwegs. Auch die Schule schrieb sich den «Kampf gegen die Feinde des Kindeswohls» auf die Fahne.
Welche Motive standen im Vordergrund, wenn Kinder fremdplatziert wurden: Schutz, Erziehung oder Kontrolle?
Die Quellen zeigen deutlich, dass die Interessen der Kinder sehr oft erst an zweiter Stelle kamen. Paradox ist, dass die Kindswegnahme von der Armenpflege mit einer angeblichen Kindeswohlgefährdung begründet wurde. Wie es den fremdplatzierten Kindern dann in der Pflegefamilie erging – wo sie oft misshandelt und ausgebeutet wurden –, wurde indessen weniger stark gewichtet. Die Aufsicht im Pflegekinderwesen wies grosse Lücken auf. Hinzu kommt: Gegenüber Herkunftseltern und Pflegeeltern wurde mit unterschiedlichen Ellen gemessen, wenn es um die Beurteilung von Erziehungskompetenzen ging.
Wer fungierte damals als Pflegefamilie?
Es gab vermutlich auch wohlhabende Familien, für die das Aufnehmen von Kindern eine philanthropische Angelegenheit war. Aber viele Familien waren selbst armutsgefährdet und bewarben sich als Pflegefamilie, weil sie auf das Kostgeld angewiesen waren. In dieser Zeit war die Nachfrage nach Pflegekindern hoch. Hier spiegelt sich die wirtschaftliche Entwicklung wider: Bei hoher Arbeitslosigkeit gibt es weniger Platzierungen. Wenn die Mutter keinen Job hat, kann sie die Kinder selbst betreuen. Gleichzeitig gibt es mehr Bewerbungen für die Aufnahme von Pflegekindern mit Blick auf das Kostgeld und die Arbeitskraft der Kinder.
Und wie wurden diese Pflegeeltern ausgewählt und überprüft??
Zuerst war dies nur grob im Gesundheitsgesetz geregelt. Die Pflegekinderverordnung des Kantons Zürich von 1893 regelte dann Bewilligung und Aufsicht. Mit der Verordnung von 1921 ging die Aufsicht ans kantonale Jugendamt über und es wurden kommunale Gemeindestellen eingerichtet. Interessanterweise lockerte diese neue Verordnung die Regelungen zur Aufsicht, weil diese aufwendig war und kostete. Dazu muss man sagen, dass in den Quellen nur die amtlich bewilligten Pflegeverhältnisse aufscheinen. Häufig gaben Eltern ihre Kinder aber präventiv an Verwandte ab. Diese Pflegeverhältnisse waren unbeaufsichtigt. Die fehlende Kontrolle konnte für das Kind im besten Fall gut sein, oft aber war sie fatal. Zu beachten ist, dass das Fremdplatzieren ihrer Kinder für die Eltern kostenpflichtig war. Entweder mussten die Eltern zahlen oder sie oder das Kind mussten für die Pflegeeltern arbeiten.
Gab es Fälle, in denen sich Kinder oder Eltern erfolgreich gegen eine Platzierung gewehrt haben?
Kinder nicht. Es kam sehr selten vor, dass sich Eltern wehrten, aber erfolgreich waren sie noch seltener. Wer sich wehrte, galt als aufmüpfig und war oft mit Leistungskürzungen und Sanktionen konfrontiert. Da hat auch nicht genützt, wenn die Eltern von einem Anwalt oder vom Pfarrer unterstützt wurden, um ihre Kinder zurückzubekommen. Hier zeigt sich oft auch behördliche Willkür.
Wurde die Mehrheit der Kinder in Institutionen oder bei Pflegefamilien untergebracht?
Genaue Zahlen können nicht eruiert werden, da es, wie gesagt, eine grosse Dunkelziffer gibt. Aber es wurden deutlich mehr Kinder in Pflegefamilien untergebracht als in Heimen.
Wie sichtbar werden die Kinder in Ihren Quellen?
Von den Kindern selbst liest man sehr selten. So beispielsweise, wenn ein Kind aufgrund eines Delikts im Strafrecht verhört wird. In diesen Protokollen kommt es zu Wort. Dabei handelt es sich nicht um eine kindgerechte Anhörung, sondern um ein Verhör, sehr oft zu Bagatelldelikten wie etwa Sachbeschädigung. Dabei wird auf die Kinder viel Druck ausgeübt, so dass sie vermutlich auch Dinge zugeben, die sie gar nicht verbrochen haben.
Sehen Sie Parallelen zwischen den damaligen Vorstellungen von Kindeswohl und heutigen Diskussionen in der Kinder- und Jugendhilfe?

Ich sehe eher die Unterschiede. Heute steht das Kind im Zentrum, nicht das öffentliche Interesse. Ausserdem wird den leiblichen Eltern auch Erziehungskompetenz zugeschrieben, früher galt pauschal: Wer Leistungen der öffentlichen Hand bezieht, ist erziehungsunfähig.
Wie stark wirken historische Strukturen oder Denkweisen bis heute in die Praxis der Pflegekinderarbeit hinein?
Die institutionellen Eckpunkte bleiben. Es braucht die Meldung einer Kindeswohlgefährdung, was ein heikles Thema ist. Dann braucht es eine Abklärung, die heute anders abläuft als damals. Darauf folgen die Entscheidfindung, die Umsetzung, die Aufsicht und die Begleitung. Was ebenfalls bleibt, ist das Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Zwang, das sich immer zeigt, wenn Kinder gegen den Willen der Eltern fremdplatziert werden. Was sich um 180 Grad gewandelt hat, ist das Professionsverständnis.
Was können heutige Fachleute aus Ihrer Forschung lernen – gerade im Hinblick auf Machtverhältnisse zwischen Behörden, Eltern und Kindern?
Ich denke, es gilt vor allem, immer selbstkritisch dranzubleiben. Wir müssen uns fragen, was wohl ehemalige Pflegekinder in fünfzig Jahren sagen würden, was im frühen 21. Jahrhundert falsch gelaufen ist. Wurde angemessen, zu früh oder allenfalls auch zu spät interveniert? Heute brauchen wir einen professionellen Umgang mit den diversen Spannungsfeldern rund um behördlich angeordnete Fremdplatzierung. In der sozialen Arbeit gibt es inzwischen die Verpflichtung zur Selbstreflexion, zur Supervision und zur Intervision, um die Interessen des Kindes ins Zentrum zu stellen.
Gibt es Themen, die Sie im Anschluss an dieses Buch weiterverfolgen möchten?
Interessant wäre sicher, den Wandel der Rolle der Schule anzuschauen. Früher war sie eine starke Akteurin der Jugendfürsorge, heute nicht mehr. Auch das Thema Leaving Care hat einen starken Bezug zur Gegenwart. Beim Übergang von der Pflegesituation in die Selbständigkeit gibt es noch heute Handlungsbedarf. Aktuell wäre es wohl gut, wenn die jungen Erwachsenen als ehemalige Pflege- oder Heimkinder Unterstützungsangebote erhielten, bis sie 25 Jahre alt sind, zum Beispiel materielle Hilfe oder Beratung für die Berufsfindung und ihren Bildungsweg. Ein weiterer Punkt: Es ist stossend, dass aktuell viele Care Leaver, sobald sie 18 Jahre alt sind, ohne zugewandte Begleitung auf den Hürdenlauf in die Selbständigkeit geschickt werden und dabei als Erstes oft sogleich in der Sozialhilfe landen.
Wenn Sie die betroffenen Kinder von damals heute etwas fragen könnten, was wäre das?
Ich würde sie gern fragen: Hast Du einen Freund oder eine Freundin? Diese Kinder brauchen jemanden, zu dem sie gehen können, dem sie von ihrem Leben erzählen können und der sie versteht. Im besten Fall sind das die Pflegeeltern oder Geschwister. Fremdplatzierte Kinder brauchen einen Ankerpunkt, eine Bezugsperson, die sie mit einem fördernden Blick begleitet und so ihre Resilienz stärkt.

Frauke Sassnick Spohn
Die Historikerin dissertierte über die «Armenpolitik zwischen Helfen und Strafen» (1989). Sie verfügt über Expertise in Fragen der Sozialpolitik, ist Autorin verschiedener Publikationen zur Winterthurer Sozialgeschichte und arbeitet als freischaffende Historikerin.
«Im Kampf gegen die Feinde des Kindeswohls»
Wie verlief die politische und fachliche Debatte über Fremdplatzierungen von Kindern? Wie kam es, dass in Winterthur mehrheitlich Kinder aus armen Familien in Pflegefamilien «versorgt» wurden? Wie stand es um die Ausübung von formalem und informellem Zwang gegenüber armutsbetroffenen Eltern und Kindern? Ging es den Pflegekindern tatsächlich so gut, wie von den Behörden berichtet? Wie erfolgte der Zugriff auf Familien durch die Armenpflege? Und was hatte die Schule mit Fremdplatzierungen zu tun?
Zeitgenössische Normen steuerten den Umgang mit Armutsbetroffenen und die Praxis von Fremdplatzierungen. Der Mythos der guten Familie nach bürgerlichem Ideal verstellte den Blick auf die Realität: Mit dem Fabriklohn eines Arbeiters war eine Familie nicht zu ernähren. Ohne Zuverdienst der Mutter reichte das Einkommen nicht. Kinder aus armen Familien waren gefordert, im Haushalt mit anzupacken, Geschwister zu hüten und ihre Hausaufgaben selbständig zu erledigen. Oft waren sie unbetreut im öffentlichen Raum unterwegs. Arme Kinder galten als «gefährdet» und zugleich als «gefährlich». Gemäss dem damaligen Diskurs war es ein logischer Schritt, dass aus armen Kleinkindern «verwahrloste» Schülerinnen und Schüler wurden, die sich als Jugendliche zwangsläufig zu Kriminellen entwickelten, sollte der Staat nicht für ergänzende oder korrigierende «gute Erziehung» besorgt sein. Hier trat die Jugendfürsorge auf den Plan – unter anderem mit der Fremdplatzierung von Kindern.
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