Oft übersehen: Fetale Alkoholspektrum-Störung (FASD)

23. 04. 2025 | Fachwissen, Fokus | 0 Kommentare

FASD umfasst verschiedene Auffälligkeiten, die durch pränatale Alkoholexposition entstehen. Studien deuten darauf hin, dass rund ein Fünftel der Kinder, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen, davon betroffen sind. Frühe Diagnosen und Unterstützung sind entscheidend.

Dr. rer. nat. Haleh Hekmat, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Lesley Bailer, Co-Leitung Schweizerische Fachstelle Pflegefamilie SFP, Fachkraft FASD i.A.

Frühzeitige Diagnosen und gezielte Unterstützungsangebote sind entscheidend, um den Betroffenen und ihren Familien zu helfen. Nicht selten spüren Pflege- und Adoptiveltern nach einer Aufnahme relativ schnell, dass beim Kind etwas anders ist. Durch fehlende Kenntnis über das Störungsbild und wenig sensibilisierte Fachpersonen im Helfersystem, werden innerfamiliär grosse Bestrebungen unternommen, den Alltag zu bewältigen. Das Ausmass der Störung wird ausserfamiliär häufig erst im Alter von 3-6 Jahren erkannt, wenn die Kinder in Spielgruppen, Kindergarten und bei der Einschulung an ihre Grenzen kommen. Oft werden dann Überforderung in Teilbereichen oder Verhaltensauffälligkeiten sichtbar.

FASD kurz erklärt

FASD bezeichnen ein Spektrum von Symptomen, die physische, mentale und verhaltensbezogene Störungen umfassen. Diese können lebenslang bestehen und hängen mit einer pränatalen Alkoholexposition in der Schwangerschaft zusammen. In Industrieländern ist FASD die häufigste nicht genetisch bedingte Erkrankung bei der Geburt. Oft sind die Folgen schwer erkenn- oder diagnostizierbar.

FASD umfasst:

  • Fetales Alkoholsyndrom (FAS): das Vollbild der Erkrankung mit Wachstums- und Gesichtsauffälligkeiten und somit am einfachsten diagnostizierbare Form (ca. 10% der Fälle).
  • Partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS): Hier überwiegen vor allem neurokognitive und behaviorale Auffälligkeiten.
  • Alkoholbedingte Neurologische Entwicklungsstörungen (ARND)

So entsteht FASD

Die Entstehung von FASD setzt nicht einen regelmässigen Alkoholkonsum oder eine Alkoholabhängigkeit der Mutter während der Schwangerschaft voraus. Das Risiko zur Entwicklung dieser Erkrankung ist auch mit punktuell exzessivem Alkoholkonsum stark erhöht. Alkohol ist vollständig plazentadurchgängig, wirkt auf verschiedene Weisen teratogen und ist dadurch schädlich für Organ- und Hirnentwicklung sowie für das Wachstum. Je nach Entwicklungsphase des Embryos/Fötus, verursacht die Alkoholexposition unterschiedliche Beeinträchtigungen. Da die Entwicklung des Gehirns die ganze Schwangerschaft über andauert, ist eine Schädigung zu jedem Zeitpunkt möglich und betrifft dementsprechend Struktur, Volumen und/oder Vernetzung (siehe Grafik).

Sensible Phasen der pränatalen Entwicklung. Nach Moore & Persuad, 2007, S. 313.

Ein Abbau von Alkohol durch den Fötus ist nicht bzw. ab 26. Schwangerschaftswoche sehr beschränkt möglich. Daraus ergibt sich eine höhere Konzentration und ein längerer Verbleib des Alkohols im Blutkreislauf des Ungeborenen.

Kein Alkohol während der Schwangerschaft

Bisher fehlen wissenschaftliche Erkenntnisse zu einer für die Entwicklung des Ungeborenen unbedenklichen Alkoholkonsummenge. Deshalb lautet die ärztliche Empfehlung immer noch «Punktabstinenz». Das bedeutet ein gänzlicher Verzicht auf Alkohol während der gesamten Schwangerschaft.

Die Realität sieht gemäss Bundesamt für Gesundheit ganz anders aus: Eine Suchtmonitoringbefragung in den Jahren 2011 bis 2016 zeigt, dass rund 18 Prozent der schwangeren oder stillenden Frauen während der Schwangerschaft oder Stillzeit mindestens jede Woche Alkohol konsumieren. Rund sechs Prozent gaben an, während dieser Zeit punktuell risikoreich Alkohol zu konsumieren. Die Schweiz gehört im globalen Vergleich zur Gruppe von Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum und entsprechend einer hohen FASD-Quote.

Viele Betroffene

Zur Häufigkeit von FAS/FASD in der Schweiz liegen keine offiziell bestätigten Zahlen vor. Gestützt auf Berechnungen und statistische Daten zu Alkoholkonsum sowie auf Vergleichszahlen aus anderen Ländern, geht man in der Schweiz von jährlich 1700 bis 4000 betroffenen Kindern aus, davon zehn Prozent mit FAS. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ergibt dies etwa 180’000 von FASD betroffene Personen. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) geht davon aus, dass für bis zu 7,5% der Lebendgeborenen hierzulande das Risiko besteht, FASD zu entwickeln. Zum Vergleich: Autismusspektrum 1-3%, Trisomie 21: 0,14%.

Krankheit oft unter dem Radar

Bei vielen betroffenen Kindern besteht zum Zeitpunkt der Fremdunterbringung keine Information zu einer allfälligen pränatalen Alkoholexposition. Anders als zum Beispiel beim Konsum von Heroin durch die werdende Mutter, bleiben die Beeinträchtigungen, die durch Alkohol verursacht werden, ein Leben lang bestehen.

Viele Betroffene Pflege- und Adoptivkinder

Zahlen aus Deutschland zeigen, dass 20-25% aller Pflegekinder von FASD betroffen sind. Man hat festgestellt, dass ca. 80% aller Kinder mit FAS nicht bei ihren Herkunftseltern, sondern in Pflegefamilien, stationären Einrichtungen oder in Adoptivfamilien leben.

Der Familienalltag mit von FASD betroffenen Kindern und Jugendlichen gestaltet sich äusserst herausfordernd, da herkömmliche Erziehungsstrategien und -Haltungen oft nicht weiterhelfen. Nach Prof. Dr. Hans-Ludwig Spohr, dem Leiter des FASD-Zentrums Berlin, tragen die Pflegeeltern im Erziehungs- und Beziehungssystem häufig die Hauptlast. Denn betroffene Kinder leiden oft unter Essstörungen, motorischer Unruhe und ausgeprägten Schlafstörungen in der Säuglingszeit.

ADHS ist häufig

Mit dem Heranwachsen zeigen betroffene Kinder in bis zu 60% der Fälle eine überdurchschnittliche Hyperaktivität und ein unruhiges, unkontrolliertes Verhalten. Sie haben zudem erhebliche Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit, was dazu führt, dass neben einer meist verminderten Intelligenz die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) die häufigste diagnostizierte Störung ist. Die Abgrenzung zu möglichen Komorbiditäten (ADHS, ASS, Bindungsstörung, Traumatisierung etc.) ist schwierig und viele Betroffene gehen ohne FASD-Diagnose durchs weitere Leben.

Kognitive Einschränkungen

Vor allem die Beeinträchtigung der sogenannten exekutiven Funktionen wirkt sich direkt auf den Familienalltag und das soziale Leben der Kinder aus und stellt je nach Ausprägung eine grosse Herausforderung für die Familien dar. Als exekutive Funktionen bezeichnet man höhere kognitive Fähigkeiten, die das Verhalten steuern und regulieren. Sie bestehen unabhängig von der gemessenen Intelligenz (IQ) und sind für die Planung, Organisation und Ausführung von Handlungen (Selbstständigkeit) notwendig. Auch für die Impulskontrolle, die Emotionsregulation und für die Entwicklung sozialer Fähigkeiten sind die exekutiven Funktionen entscheidend. Beispielsweise bei neuen Aufgaben und Situationen, wenn automatisiertes Handeln zur Problemlösung nicht mehr ausreicht, sondern geistige Flexibilität sowie Zugang zum Arbeitsgedächtnis wichtig wären.

Aggressionen, Depressionen und Bindungsstörungen

Obwohl äusserlich oft wenig auffällig, können Jugendliche mit FASD aggressiv oder depressiv wirken und in ihrer Entwicklung auf verschiedene Weise beeinträchtigt sein. Trotz allenfalls guter Sprachfähigkeiten haben sie Schwierigkeiten, sowohl einfache als auch komplexe Zusammenhänge zu verstehen und umzusetzen. Sie kämpfen mit Bindungsproblemen und fühlen sich oft als Aussenseiter. Das kann dazu führen, dass sie die ihnen gesetzten Grenzen überschreiten, bis hin zu Gewalttaten und Diebstahl. Die schulische Laufbahn ist stark von der häufig eingeschränkten Grundintelligenz abhängig. Auch bei Kindern mit Normalbegabung führt in vielen Fällen das auffällige Verhalten dazu, dass sie nur den Weg in eine Sonderschule für Kinder mit Lernbeeinträchtigung oder Verhaltensauffälligkeit einschlagen können. Wenn mit Erreichen der Volljährigkeit stabilisierende Strukturen wegbrechen, drohen Alltagsüberforderung, Delinquenz oder Alkohol- und Drogenprobleme. Eine gut begleitete Transition und weitere Unterstützung sind deshalb wichtig.

Verringern langfristiger Folgen

Verschiedene Studien haben protektive Faktoren identifiziert, die das Ausmass der langfristigen Folgen der vorgeburtlichen Schädigungen verringern. Dazu gehören unter anderem die frühe Erstdiagnose vor dem 6. Lebensjahr, das Aufwachsen in einem stabilen und unterstützenden Zuhause für mehr als 70% der Lebenszeit, das Fehlen von Gewalterfahrungen sowie die Inanspruchnahme therapeutischer Unterstützung.

Frühe Diagnose entscheidend

Eine möglichst frühe Diagnose und ein damit verbundenes Krankheitsverständnis, ermöglicht dem Umfeld eine neue innere Haltung dem Kind gegenüber und kann innerfamiliär eine grosse Entlastung bedeuten. Schwierigkeiten und Auffälligkeiten ihrer Kinder sind nicht Folge des erzieherischen Unvermögens der betreuenden Eltern, wie dies die Umwelt gern vermittelt, sondern es liegt ein Krankheitsbild mit Hirnschädigung vor.

Umdenken notwendig

Daraus leitet sich ein Umdenken hin zu einer hilfreichen pädagogischen Haltung ab. Kinder mit FASD brauchen eine andere Pädagogik, andere Strukturen und Hilfen als nicht betroffene Kinder.

Aus den besonderen erzieherischen Anforderungen für diese Kinder ergeben sich in vielen Fällen ausgeprägte psychische und subjektiv gefühlte Belastungen von betreuenden Eltern.

Die Wirkung der auftretenden Schwierigkeiten auf das Familiengefüge und die zu betreuenden Menschen zeigt, dass Unterstützung und Entlastung von aussen dringend benötigt wird. Daher brauchen Bezugspersonen von Betroffenen Aufklärung über Ursachen und Besonderheiten von FASD, Beratung zu Unterstützungsangeboten und praktische Tipps im Umgang mit den Schwierigkeiten. Dies auch als Burnout-Prophylaxe.

Unterstützung

Bezüglich der Förderung ist es wichtig zu realisieren, dass Kinder und Jugendliche mit einer FASD-Erkrankung komplexe Defizite in verschiedenen Funktionen des zentralen Nervensystems haben und kein einheitliches neuropsychologisches Profil aufweisen. Die Therapie sollte wegen der Symptomvielfalt des FASD daher nicht diagnose-, sondern symptomorientiert ausgerichtet sein sowie individuell geplant und dem jeweiligen Verlauf angepasst werden. In der Schweiz gibt es bisher kaum FASD-spezifische Unterstützungsangebote oder Anlaufstellen. Momentan befindet sich das Netzwerk FASD Schweiz im Aufbau und die Schweizerische Fachstelle Pflegefamilie (SFP) bietet Weiterbildungen, Beratung und Vernetzungsmöglichkeiten zu diesem Thema an.

Literaturverzeichnis mit Quellenangaben

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Bücher zum Thema

Ein (Pflege-)Kind mit FASD – und glücklich! – Ein pädagogisch-therapeutischer Wegweiser. Susanne Falke, Sabine Stein
Schulz-Kirchner Verlag, ISBN 978-3-8248-1216-5
Zur Buchkritik

Das FASD-Elternbuch – Hilfen und Strategien für Eltern und Kinder. Sabine Leipholz, Uwe Kamphausen
Schulz-Kirchner Verlag, ISBN 978-3-8248-1263-9

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