Zu jeder Zeit kann die Anfrage kommen: Will Familie Beutler ein Neugeborenes als Übergangspflegefamilie aufnehmen? Das Besondere daran ist, dass das Kind schon nach drei Monaten wieder ausziehen könnte. Manchmal dauert es aber dann doch länger. So oder so: Die Beutlers haben ihre eigenen Rituale entwickelt, mit denen sie sich jeweils vom Kind verabschieden.
von Sarah Hadorn
Wer in die Wohnung der Familie Beutler tritt, dem strahlt Nestwärme entgegen. Warme Farben, eine wohnliche Atmosphäre. Kinderlachen. Das Wohnzimmer geht auf einen Gartensitzplatz hinaus, die Küche ist hell. Im Kinderzimmer hängt ein Bild mit diversen Kinderfotos drauf. Von verschiedenen Kindern. Wenn Eltern ihr Baby zur Adoption freigeben, kommt das Kind in der Regel zuerst zu einer Übergangspflegefamilie. Denn bevor das Kind sechs Wochen alt ist, dürfen die Eltern ihre Einwilligung zur Adoption nicht erteilen. Nach dieser ersten Unterschrift haben sie dann nochmal sechs Wochen Zeit, die Einwilligung zurückzuziehen. Damit es dem Baby in diesen ersten Wochen nicht an Zuwendung und ersten positiven Bindungserfahrungen fehlt, kümmert sich eine Übergangspflegefamilie darum. So eine Familie sind Daniela und Beat Beutler – beide 52 Jahre alt – aus dem Kanton Bern.
Fremde Kinder gerne haben
Bereits mit 21 Jahren hat das Paar geheiratet und drei Kinder bekommen – zwei Töchter und einen Sohn. «Die Familie meiner Schwägerin hat dann um 2007 ein Pflegekind zu sich genommen als Dauerpflegefamilie», erzählt Daniela Beutler. Aus medizinischen Gründen rieten ihr die Ärzte von einem vierten Kind ab.
«Doch ich habe mir schon als kleines Mädchen zwölf Kinder gewünscht», erinnert sie sich lachend. Aber auch wenn die gelernte Papeterieverkäuferin mit Pflegekindern geliebäugelt hatte: Ihr Mann konnte sich damals nicht vorstellen, «fremde» Kinder gern zu bekommen. «Dann merkte er, dass er sogar die Pflegekinder seiner Schwester gern hat», sagt Daniela Beutler schmunzelnd.
«Ich habe einfach eine sehr grosse Liebe in mir.»
– Daniela Beutler, Pflegemutter
Daniela Beutler stellte ausserdem in dieser Zeit fest, dass es nicht unbedingt eigene 12 Kinder sein müssen. «Ich habe einfach eine sehr grosse Liebe in mir und hatte nie das Bedürfnis, zurück in den Beruf zu gehen. Ich wollte mich um Kinder kümmern. Das ist eine für mich sehr erfüllende Arbeit. Und mein Mann hat mir das ermöglicht», sagt sie dankbar.
Vor 13 Jahren meldete sich die Familie dann zum Vorbereitungskurs für Pflegeeltern an. Die eigenen Kinder waren damals 13, 10 und 7 Jahre alt. «Ohne das Einverständnis unserer Kinder hätten wir niemals Pflegekinder aufgenommen. Wir hatten auch die Abmachung, dass sie bei jedem Pflegekind von neuem entscheiden konnten, ob sie wollen, dass wir das Kind aufnehmen oder nicht. Das war uns sehr wichtig», betont Beat Beutler. So gab es etwa einmal die Situation, als ein Platz für ein 13-jähriges Mädchen gesucht wurde und die damals gleichaltrige Tochter fand, sie wolle nicht als Vorbild dienen müssen. So kam das Mädchen in eine andere Pflegefamilie. Die Abklärung, ob die Beutlers als Pflegefamilie geeignet sei, war eine Herausforderung: «Das eine ist, dass Fakten abgeklärt werden müssen: Gibt es genug Platz? Haben die Eltern genug Zeit? Ob wir unsere Kinder schlagen würden, fand ich dann aber eine beunruhigende Frage. Man fühlt sich schon etwas ausgehorcht und will natürlich gut dastehen, aber trotzdem auf jeden Fall die Wahrheit sagen», sagt Daniela Beutler.
Die Familie erhielt die Bewilligung zur Aufnahme von Pflegekindern. Die ersten drei Jahre waren sie als ganz «gewöhnliche» Pflegeeltern tätig. Dann entschloss sich die Familie, sich auch für die Kleinsten einzusetzen und erhielt die Eignungsbescheiningung für Kinder bis 5 Jahre. Doch im gleichen Jahr ereilte die Familie die schlimmste Tragödie, die es für Eltern gibt: Die älteste Tochter, damals 16 Jahre alt, starb an den Folgen einer Lungenentzündung.
Der Schmerz dieser Erfahrung, einen geliebten Menschen viel zu früh gehen lassen zu müssen, gab der Familie letztendlich die Kraft und Gewissheit, für die Kleinsten dasein zu können und auch nicht damit zu hadern, dass die Pflegedauer manchmal nur drei Monate dauert.
Liebe und Kraft für viele Kinder
«Die Entwicklung eines Kindes vom ersten Tag an zu begleiten bis es erwachsen ist: Das haben wir schon erlebt. Das möchten wir nicht noch mal. Wir wollen nicht alles wieder von vorne erleben. Es ist spannend, immer wieder ein neues Kind, eine neue Familie und eine neue Situation kennenzulernen. Als Übergangspflegefamilie haben wir mehr Freiheiten», erzählt Beat Beutler.
Und sie hätten gemerkt, dass sie noch Liebe und Kraft für viele Kinder hätten, so Daniela Beutler. Beutlers leben die klassische Rollenteilung: Beat Beutler arbeitet im Maschinenbau in einer Firma, die nur fünf Minuten entfernt ist. Das sei sehr praktisch, so sei er flexibel, wenn es nötig sei. Seine Frau dagegen managt daheim die Familie und das Pflegekind. «Wir schliessen es sofort ins Herz und fragen uns: Was brauchen es, um sich gut zu entwickeln? », sagt Beat Beutler. Wie sie das bei ihren eigenen Kindern taten.
Durch die Aufteilung ist klar: Die erste Bezugsperson für das Baby ist Daniela Beutler. «Wenn wir uns bereit erklären, ein Kind aufzunehmen, besuche ich es nach Möglichkeit schon im Spital und hole es dann ab, wenn es entlassen wird», erzählt Daniela Beutler. Mit jedem Kind komme auch eine neue Geschichte in die Familie. Und wie lange das Baby bleibt, ist jeweils ungewiss. Eigentlich soll es nach drei Monaten zu den Adoptiveltern. Aber je nach Situation kann das auch länger dauern. 13 Monate blieb das Baby mit der längsten Aufenthaltsdauer. Neben den fünf Kleinkindern, einem Entlastungskind und einem Baby, das eine Woche bei der Familie blieb, haben die Beutlers insgesamt acht Neugeborene betreut. Wie das bei Babies halt so ist, dreht sich da der Alltag um Essen und Schlafen.
«Das sind oft sehr stille Babies. Ich sage ihnen oft: Du darfst weinen, du darfst traurig sein». Ich will, dass das Baby sich schnell wohl und daheim fühlt. Wir gehen auf die Kinder ein, versuchen, ihre Bedürfnisse herauszufinden. Wir hatten einen Buben, der wahnsinnig viel geweint hat. Er kam irgendwie nicht bei uns an. Wir haben ihm viel Nähe gegeben», erzählt die Pflegemutter. Sie denke, sie habe eine Begabung dafür, zu spüren, was die Kinder brauchen. Betreut werden die Beutlers seit 2016 durch den Verein tipiti (Dienstleistungsanbieter in der Familienpflege, siehe Box).
Wichtig für die Biografiearbeit
In den Kursen haben die Beutlers viel gelernt. «Doch man muss das, was man im Kurs lernt, an die Realität anpassen und eigene Strategien entwickeln. Denn das Umfeld eines Babies kann schwierig sein», weiss Beat Beutler. Es laufe oft nicht so, wie es geplant sei.
Vom ersten Tag an, wenn ein Übergangspflegebaby zu ihrer Familie stösst, gestalten die Beutlers die gemeinsame Zeit mit einigen Ritualen. «Wir legen für das Baby eine Art Schatzkiste an. Rein kommt zum Beispiel eine Zeitung von seinem Geburtstag, die Finken, die ich für das Kind stricke, den Nuggi, ein Kleidchen, die Nabelschnur oder wenn wir haben auch Fotos von den leiblichen Eltern», erzählt Daniela Beutler. Die Pflegefamilie rede auch schnell mit dem Baby über seine Eltern. Wenn die Zeit gekommen ist, an dem das Baby zu seinen Adoptiveltern kommt, wissen die Beutler auch, was zu tun ist.
Über die Jahre haben sich für die Phase des Übergangs Rituale als hilfreich erwiesen. So ist es Daniela Beutler wichtig, das Kind den Adoptiveltern zu bringen. Wieder Zuhause, bastelt sie eine Schatzkiste für das Kind mit wichtigen Erinnerungsstücken, wie zum Beispiel dem Nuggi, dem Bilderbuch «Wirst Du mich immer lieb haben» oder liebgewonnene Gegenstände. Diese Schatzkiste, zusammen mit einem nach dem Bilderbuch dekorierten Kuchen, wird beim ersten Nachbesuch einige Tage nach der Übergabe den Adoptiveltern übergeben.
So rasch als möglich versucht das Ehepaar anschliessend, gemeinsam etwas zu unternehmen, wie zum Beispiel ein verlängertes Wochenende. «Und dann gestalte ich in den kommenden Wochen ein Fotoalbum, das die Geschichte des Kindes in unserer Familie dokumentiert. Dort werden auch noch Briefe an das Kind geschrieben und alles zusammen den Adoptiveltern übergeben. Auf diese Weise haben wir für uns einen Weg gefunden, loszulassen und zu verarbeiten.Wenn ein Baby in seine Adoptivfamilie kommt, dann ist unsere Geschichte noch nicht zuende», erzählt die Pflegemutter. Sie hätten durchaus noch Kontakt zu einigen Pflegekindern: «Unsere Tochter hütet zum Beispiel eines der ehemaligen Pflegekinder. Aber wir wollen uns nicht aufdrängen. Manchmal besuchen wir die Familien, manchmal sie uns. Für das Kind kann es wichtig sein, zu sehen, wo es in seinen ersten Wochen gelebt hat. Das gehört zur Biografiearbeit », so Daniela Beutler. Sie investieren viel aber erwarten nichts.
Die Familie Beutler hat sich mit ihrer Rolle als Übergangspflegefamilie gut eingerichtet. «Es gibt zwei Phasen: Wenn wir ein Kind hier haben, wird die Wohnung mit vielen Spielsachen belebt. Wenn wir unter uns sind, ist es aufgeräumt», erzählt Daniela Beutler lachend. Ihr Mann ergänzt: «Uns geht es gut, wir haben viel Glück. So können wir einen Dienst an der Gesellschaft leisten. Dabei ist uns unser Glaube wichtig. Wir können nicht die ganze Welt retten, aber doch einigen Kindern ein Teilzeit-Zuhause bieten.»
DAS TUT PACH
PACH arbeitet eng mit dem Verein tipiti zusammen, der als DAF die Übergangspflegefamilien (ÜPF) ausbildet und begleitet. Ausserdem berät und unterstützt PACH die leiblichen Mütter in ihrer schwierigen Situation, wenn sie ihr Kind zur Adoption freigeben wollen. PACH begleitet als Vermittlungsstelle die künftigen Adoptiveltern beim Übergangsprozess des Kindes. PACH unterstützt alle Pflegeeltern – also auch Übergangspflegeeltern: PACH bietet Austauschgruppen an, in denen Betroffene über ihre Erfahrungen reden können. Und für Herausforderungen, bei denen Pflegeeltern Unterstützung brauchen, führt PACH Coachings oder Supervisionen durch, die über die Viktor-Dürrenberger-Stiftung finanziert werden können.
Bei Fragen ist PACH Montag bis Donnerstag 10 bis 12 Uhr / 14 bis 16 Uhr, Freitag 10 bis 12 Uhr telefonisch erreichbar unter Tel. 044 205 50 40. Für schriftliche Anfragen können sich Pflegeeltern an info@pa-ch.ch wenden. Die erste Beratung ist kostenlos.
NACHGEFRAGT
Andrea Rechenmacher, Sie sind Fachberaterin Übergangspflege bei tipiti. Gelten für Übergangspflegefamilien (ÜPF) andere Kriterien bezüglich Eignung als bei «normalen» Pflegefamilien?
Grundsätzlich ist die Abklärung recht ähnlich. Ein unterscheidendes Kriterium ist, dass wir bei den ÜPF voraussetzen, dass die eigenen Kinder schon 10 Jahre oder älter sind. Oft kommen «empty nest families» zum Einsatz. Um manchmal sehr kurzfristig ein Baby bei sich aufnehmen zu können, braucht es eine hohe Flexibilität. Auch haben einige Babys besondere Bedürfnisse oder einen erhöhten Betreuungsbedarf (weil sie z.B. einen Alkoholoder Drogenentzug durchmachen) und beanspruchen eine Pflegeperson rund um die Uhr sehr stark. Dies ist nur möglich, wenn die eigenen Kinder schon eine gewisse Selbstständigkeit haben. Und das Wichtigste: Die Familien müssen innerlich bereit sein, ein Baby wieder abzugeben, auch wenn sie es ab dem Tag der Geburt wie ein eigenes gepflegt und geliebt haben.
Worauf achten Sie besonders bei der Abklärung?
Die Familien müssen sich mit ihrer eigenen Biografie auseinandersetzen und Themen erkennen und bearbeiten können, die sie mit der Platzierung eines Übergangspflegebabys einholen, und diese auch in entsprechenden Situationen abrufen können. Ihre Bewältigungsstrategien (Ereigniskompetenz) in herausfordernden Lebenssituationen schauen wir ebenfalls an. Auch in diesen ungewohnten Situationen müssen sie dem Kind Sicherheit vermitteln. Der Hausbesuch stellt einen wichtigen Punkt während der Abklärung dar. Wir schauen, hören, fühlen, riechen. – und stellen uns vor, wie es wäre, unser eigenes Kind in die Obhut dieser Familie zu geben. Die Abklärung einer neuen Familie findet immer nach dem Mehraugenprinzip statt. Manchmal ziehen wir auch externe Fachpersonen bei. Nur wenn wir als ganzes Team «ja» sagen können zu einer Familie, platzieren wir ein Kind. Der Prozess dauert ca. ein halbes Jahr. Parallel laufen auch die Abklärungen des jeweiligen Kantons bezüglich Pflegeplatzbewilligung.
Brauchen Übergangspflegefamilien mehr Support als andere?
Dies kann nicht generell beantwortet werden. Es gibt Situationen, in denen eine Übergangspflegefamilie mehr Unterstützung braucht, und es gibt Zeiten, in denen siesehr selbstständig unterwegs sind. Da Übergänge eine zentrale Rolle spielen und die Aufenthaltszeit kürzer ist als in einem anderen Pflegeverhältnis, kann es je nach Situation aufwändig werden.
Wenn ja, in welchen Themen?
Zum Beispiel zu Beginn einer Platzierung, bei der Situationsklärung, beim Kontakt zu leiblichen Eltern des Kindes, während und nach dem Übergang zu neuen Eltern und vor allem bei Unklarheiten betreffend dem Weiterverlauf, da muss emotional viel getragen werden.…aber das ist auch bei Dauerpflegefamilien so.
Wie sieht die Begleitung der Übergangspflegefamilien aus?
Ich bin regelmässig persönlich oder per Telefon und Mail mit den ÜPF in Kontakt. Etwa alle drei Monate besuche ich sie zuhause, bei Kontakt mit leiblichen Eltern oder während des Übergangs auch häufiger. Die ÜPF schicken mir jede Woche einen Wochenbericht, in dem sie schreiben, wie es dem Kind geht und wie es sich entwickelt.
Gibt es eine Art Nachsorge bei den Übergangspflegeeltern?
Die ÜPF können mich auch nach der «Übergabe» eines Kindes jederzeit kontaktieren, um mit mir zusammen den Übergang und die damit verbundenen Emotionen zu verarbeiten. Nachsorge ist sehr wichtig und notwendig. Bei Bedarf kann dafür auch auf die Bereichsleitung und auf externe Fachpersonen zurückgegriffen werden. Etwa zwei Monate nach dem Übergang treffe ich mich mit der ÜPF für einen Rückblick auf die Zeit mit dem Baby. Den Austausch unter den Übergangspflegefamilien erachte ich auch als sehr wichtig, und ich bin froh, wenn sich ÜPF in schwierigen Situationen gegenseitig unterstützen können. Deshalb organisieren wir zweimal jährlich ein Treffen mit allen ÜPF, bei welchen es jeweils auch einen fachlichen Input gibt. Und seit einem Jahr bieten wir Supervision mit einer externen Supervisorin an. Zudem können ÜPF das gesamte Weiterbildungsangebot von tipiti kostenlos besuchen.
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